Thomas prustete verächtlich, bis Boniface diese Unverschämtheit mit einem strafenden Blick unterband. Boniface war der Untergebene des Dukes gewesen, aber Thomas war seiner, und dieser Zirkel konnte nur funktionieren, wenn jeder wusste, wo sein Platz war.
»Das ist nicht genug«, beharrte Boniface.
»Niemand verhungert«, sagte Henry. Henry war erst vor fünfhundert Jahren in den Zirkel gekommen, deshalb wurde er immer noch als der Neue betrachtet. Auch er war dank der freundlichen Unterstützung des Dukes aufgenommen worden, was ihn und Boniface quasi zu Brüdern machte – oder wenigstens zu Stiefbrüdern, die sich von Anfang an nicht hatten leiden können. Boniface hatte mittlerweile seinen eigenen Kopf und er fand, dass Henry sich benahm, als ob er immer noch im Dienst stünde. Er war ein Arschkriecher und eine Marionette, und auch, wenn er unsterblich war, hatte Boniface keine Zeit für ihn.
»Sechzig Millionen, und wir leben von Abfall«, wandte er sich direkt an den Duke, als ob Henry gar nicht da wäre.
Der Duke zuckte mit den Schultern. »Ich kann noch einmal mit dem Europäischen Rat sprechen, aber du weißt, was sie sagen werden.« Dies war seine altbewährte Ausweichtaktik. Wann immer jemand etwas vorschlug, womit er nicht einverstanden war – und sich nicht abwimmeln ließ – erzählte er jedes Mal, da müsse man zuerst die hohen Tiere fragen, aber er würde sich keine großen Hoffnungen machen. Diese Strategie war ein Klassiker, noch dazu einer, der schon seit Anbeginn der Zeit von Adligen, Kriegern und den Jungs in Werkstattketten benutzt wurde.
»Scheiß auf den Rat! Ich sage, wir legen unsere eigenen Quoten fest«, schnappte Boniface. Langsam brach sein angestauter Frust sich Bahn.
»Und schneiden uns selbst die Hälse durch?« Jetzt lief auch Angel in der staubigen Farmhausküche hin und her. Angel saß nicht gerne und sie mochte die Enge nicht. Dieses Treffen hatte gerade erst angefangen und dauerte schon zu lange.
»Der Rat würde uns zur Strecke bringen, das weißt du«, erinnerte Henry Boniface.
»Es sind schwierige Zeiten – für alle.« Der Duke schlug einen versöhnlichen Ton an. »Unsere glorreichen Tage sind lange vorbei. Wir dürfen nicht in der Vergangenheit verweilen, wenn wir nicht mit ihr aufs Abstellgleis geschoben werden wollen.«
»Wie bitte?«, schnaubte Thomas.
»Nehmt die Zukunft an, so wie ich es tue«, führte der Duke aus. »Es ist immer noch besser, ein Teil davon zu sein, als das nicht zu sein.«
Das war Ansichtssache. Boniface machte sich nicht viel aus der Zukunft. Oder der Gegenwart. Wo sie einst wie Löwen umhergestreift waren, huschten sie nun herum wie Ratten. Ihre Beute war ihnen überlegen. Ihre einzige Hoffnung bestand darin, unterzutauchen, sich heimlich aus dem Bewusstsein der Menschen ins Reich der Legenden zu schleichen. Es handelte sich um ein taktisches Manöver, aber Boniface wurde den Eindruck nicht los, dass er schon wieder vor dem Kampf weglief.
»Schwierige Zeiten!«, rief er. »Aber nur für uns, denn ich weiß, was sie sich drüben in Europa nehmen, und das ist verdammt noch mal eine Menge mehr als wir hier.«
»Wir sind ein Inselvolk, Peter. Wir müssen sorgsamer vorgehen. Das hat seine Vor- und Nachteile«, sagte der Duke.
»Ha. Was sind noch gleich die Vorteile?«, schnaubte Thomas erneut.
»Die Bevölkerungszahl steigt enorm an«, rief Boniface allen in Erinnerung.
»Genau wie die Qualität ihrer Technologie«, bemerkte Henry. »Zahnärztliche Unterlagen, Computerdateien, DNA. Wir haben es nicht mehr mit den Bow Street Runners zu tun.«
Bei dem Anblick, den das Farmhaus bot, war es allerdings verzeihlich, falls Boniface annahm, er wäre noch im achtzehnten Jahrhundert. Die meisten Einrichtungsgegenstände hätte Jack the Ripper wahrscheinlich schon altmodisch gefunden, und über den momentanen Zustand des Hauses schwieg man besser ganz. Staub, Spinnweben, Schimmel und Verfall gaben der Farm weniger ein rustikales Flair, sie bewahrten sie vielmehr vor dem Zusammenbruch. Ein einziger unüberlegter Frühjahrsputz, und ein Staubwedel würde mehr Schaden anrichten als eine Abrissbirne. Nicht, dass die Gefahr eines Hausputzes ernsthaft bestanden hätte. »Hygiene« war etwas, das die Thatchers für ein ziemlich hässliches afrikanisches Raubtier hielten.
»Ach, kommt schon, all diese Migranten, die sich an der Unterseite von Lastwagen festklammern, um zu uns zu kommen. Bestimmt würde niemand ein paar von denen vermissen.«
Alle verstummten überrascht und blickten sich suchend um, denn ausnahmsweise war es nicht Boniface, der diese Ansicht vertrat. Es war die reizende, weißhaarige alte Alice. Sie strickte immer noch vor sich hin, lauschte dabei aufmerksam dem Gespräch, und wenn sie auch nicht besonders viel von dem farblosen Mr. Boniface oder seinen Methoden hielt, musste sie doch zugeben, dass er nicht ganz unrecht hatte.
»Hast du wieder die Daily Mail gelesen, Alice?«, vermutete Angel.
»Das gehört alles zum Image, meine Liebe«, lächelte Alice harmlos wie ein Wolf in Großmutters Nachthemd.
Bevor Boniface das Argument ausweiten konnte, pflückte Henry es schon auseinander.
»Diese Migranten sind nicht so unsichtbar, wie ihr glaubt«, sagte er. »Sie bringen unsere Ernten ein, fegen die Straßen, leeren die Mülltonnen und schicken das Geld ihren Familien, damit die ihnen vielleicht eines Tages hierher ins gelobte Land folgen können. Sie sind ein Teil der Substanz unserer Gesellschaft, und falls wir anfangen, uns an ihnen zu bedienen, wird man sie vermissen.«
»Meine Freundinnen nicht, so viel ist sicher«, sagte Alice. Sie meinte die lila getönte Brexit-Brigade, der sie permanent nachlief wie der Gevatter Tod persönlich.
»Warte, bis deine Freundinnen auf dem Sterbebett liegen und jemanden brauchen, der ihnen den Arsch abwischt. Was glaubst du, wie viele von ihnen Miss Saigon noch nach Hause schicken wollen, wenn sie diejenige ist, die die Klopapierrolle in der Hand hält?«, fragte der Duke.
Alice lächelte. »Ich glaube, den meisten meiner alten Freundinnen wird dieses Schicksal erspart bleiben.«
Thomas dachte da anders. »Ich mag sie nicht, wenn sie über sechzig sind. Schmecken mir zu sehr nach Wild.« Er verzog das Gesicht bei der Vorstellung.
Doch Boniface war entschlossen, zurück zur Sache zu kommen. »Worüber reden wir hier überhaupt? Ich bin kein Rassist. Ich bringe jeden um. Es ist mir egal, wo sie herkommen.«
»Oh, das ist nett. Er ist ja so nett«, sagte Henry.
»Und was ist mit ihren Überresten, Peter?«, wollte der Duke wissen. »Hast du dir darüber Gedanken gemacht?«
»Ich rede doch nur von ein paar mehr.«
»Und danach noch ein paar mehr?«, fragte der Duke. »Und dann noch ein paar mehr. Und bevor wir es uns versehen, werden die Zahlen unüberschaubar, die Vermissten werden gefunden …«
»… und wir auch«, vervollständigte Angel den Satz des Dukes, um deutlich zu machen, wem ihre Loyalität galt.
Boniface warf frustriert die Hände hoch. »Es ist ja auch nicht so, als ob sie sich nicht jeden Samstagabend sowieso gegenseitig an die Gurgel gehen würden.«
»Also das hast du getan? Dich selbst bedient?«, fragte der Duke.
»Oh ja, das hättest du wohl gerne, oder? Die Genehmigung des Rates, mich loszuwerden!«, höhnte Boniface. Im schmutziggelben Licht der uralten Glühbirne stierte er seinen ehemaligen Meister zornig an.
Der Duke schüttelte den Kopf, dann wandte er seinen Blick von Boniface ab. »Mit dir habe ich nicht gesprochen, Peter.«
Boniface war verwirrt. »Was?«
Angel echote: »Was?«
Blicke flogen durch den Raum, bis sie schließlich auf Thomas landeten.
»Was? Was ist?«, fragte er.
»Hast du wirklich gedacht, wir würden es nicht herausfinden? Dass der Rat es nicht herausfindet?«, fragte der Duke.
»Wovon