Sebastian hatte sein ganzes verflixtes Leben lang nur Not und Elend gekannt. Aufgewachsen in einem Waisenhaus, mit niemandem, der sich um ihn gekümmert hätte, waren seine gelegentlichen Weihnachtsgeschenke freundlicherweise von diversen Wohltätigkeitsorganisationen gekommen (wenn die es sich leisten konnten) und nun lag eine Zukunft vor ihm, die darin bestand, die Toiletten einer Maklerfirma in der City zu reinigen. Sebastian hatte daher nichts gegen die Aussicht auf einen Wochenendurlaub mit einer Sugarmama einzuwenden. Und niemand sollte behaupten, er habe das nicht verdient. Sogar den Niedrigsten in Londons Unterschicht stand ab und an eine Erholungspause zu.
Sebastian arbeitete in der Nachtschicht. Wenn sich die Börsenhändler zu den Champagnerbars von Bishopsgate aufgemacht hatten, kamen Sebastian und seine Mitbeauftragten, um den »Champagner« aufzuwischen, den sie über die Fußböden der Vorstandstoiletten verspritzt hatten. Es war eine Drecksarbeit, aber irgendjemand musste sie schließlich machen – und das, wie es aussah, unterhalb des gesetzlichen Mindestlohns. Doch wie Sebastian und seine Kollegen nur zu oft von ihrem Vorarbeiter zu hören bekamen: »Wenn ihr den Job nicht wollt, dann weiß ich zehn Kerle, die heute Nacht in Dover ankommen und ihn sofort nehmen würden.« Mr. Kelseys Motivationsmethoden mochten einiges zu wünschen übrig lassen, aber er hatte nicht ganz unrecht. Bettler können nicht wählerisch sein, jedenfalls nicht in diesem Leben, und Sebastian machte sich keine Illusionen über seine zukünftigen Karriereaussichten. Mit sechzehn war er aus der Schule geflogen (verdammte Grammatik), mit achtzehn aus der Army (verdammte Tauglichkeitsuntersuchung), mit einundzwanzig aus dem Prince’s Trust (verdammtes Nulltoleranzprinzip Drogen gegenüber) und mit dreiundzwanzig aus der Musikszene (verdammte Talentfreiheit).
Inzwischen war Sebastian sechsundzwanzig. Die meisten Typen in seinem Alter hinterließen längst ihre Spuren in der Geschäftswelt – und offensichtlich an den Wänden und Klobrillen, damit Sebastian sie wegwischen konnte – nur er selbst ging nirgendwohin. Und er wusste es.
Dabei war Sebastian das Arbeiten in einer Maklerfirma zuerst tatsächlich reizvoll erschienen. Er hatte gedacht, er könnte ein paar nützliche Kenntnisse aufschnappen, aber bis jetzt hatte er bloß die Erkenntnis gewonnen, dass sein Leben sogar noch beschissener war, als er vermutet hatte. Das Geld, das die Typen in den Anzügen verdienten, trieb einem die Tränen in die Augen; es waren unanständige, geradezu ekelhafte Summen, und doch fand nichts davon seinen Weg zu Sebastian. Man sollte meinen, ein Manager mit einem Monatsgehalt von 25.000 Pfund plus einem halbjährlichen Bonus von 250.000 Pfund könnte dem Kerl, der jeden Abend seine Pisse wegwischt, vielleicht mal einen Zwanziger Trinkgeld für seine Mühe dalassen, aber nein: Alles, was die jemals daließen, war noch mehr Pisse. Und Scheiße. Und mit Klopapier verstopfte Abflüsse. Es konnte selbst den Besonnensten dazu treiben, Jeremy Corbyn zu wählen.
Aber dann traf er Vanessa. Er wusste nicht, was genau ihr Job war, aber sie arbeitete ebenfalls nachts. Um sich die asiatischen Märkte zunutze zu machen, wie sie sagte. Nie sah er sie vor einem Computerbildschirm sitzen oder in einem der Büros. Er begegnete ihr nur auf dem Flur oder fuhr ab und zu mit ihr im Fahrstuhl. Sie war eine der Wenigen, die Sebastian überhaupt zur Kenntnis nahmen, und das nicht nur, um ihn auf eine vergessene Bremsspur an der Kloschüssel aufmerksam zu machen. Sie war freundlich, liebenswürdig und sehr, sehr verführerisch. Sie hatte unglaubliche Augen von geradezu hypnotischer Schönheit. Die Art Augen, die einem direkt in die Seele blickten. So kam es Sebastian wenigstens vor.
Natürlich spielte er bei Weitem nicht in ihrer Liga. Sebastian war sich noch nicht einmal sicher, ob sie überhaupt beide dieselbe Sportart ausübten. Vanessa war stilvoll, kultiviert und strotzte vor Selbstvertrauen. Sebastian … nicht.
Für sie war er bloß ein Hündchen. Eine niedliche kleine Promenadenmischung, die sie im Vorübergehen streichelte; das war alles, was er ihr je bedeuten würde. Wie konnte es auch anders sein, wenn die Gehälter aller anderen Typen im Gebäude sechs Ziffern hatten, ihre Autos Summen mit fünf Ziffern kosteten, ihre Anzüge vier, und sie selbst die Ziffer Acht quer über die Kacheln pissten, die Sebastian dann abwischen musste?
Und Vanessa hatte es durchaus auch auf die großen Tiere abgesehen, vor allem auf ausländische Broker, die mit kurzfristigen Verträgen herkamen, für ein oder zwei Firmenfusionen blieben und sich dann mit den Früchten ihrer Mausklicks in sonnige Gefilde zurückzogen. Mit wie vielen Typen hatte Sebastian sie während seiner Zeit in der Firma schon aus dem Gebäude gehen sehen? Er hatte nicht nachgezählt, aber es waren genug, um anzunehmen, dass Vanessa wohl Teil des Bonussystems sein musste.
Doch dann hatte sie eines Nachts angefangen, mit Sebastian zu reden, und zwar nicht nur irgendwelchen Small Talk, sondern echte Gespräche: über das Leben, die Liebe und die Lasten der Vergangenheit. Es war, als ob sie ihn aushorchte, abschätzte, ihm vielleicht sogar ihr Vertrauen schenkte. Sebastian fühlte sich gleichzeitig geschmeichelt und verunsichert, tat aber sein Bestes, sich das nicht anmerken zu lassen. Wenn das Aufwachsen in einem Waisenhaus ihm irgendetwas beigebracht hatte, dann war es, zu bluffen und seine wahren Gefühle hinter einer Maske zu verbergen.
»Ich denke darüber nach, dieses Wochenende wegzufahren«, hatte Vanessa gesagt, worauf Sebastian erwidert hatte: »Ich auch.«
Das stimmte sogar; er dachte andauernd daran, wegzufahren. Allerdings machte er das nie. Kein Geld. Aber darüber nachdenken tat er wirklich oft.
»Falls deine Pläne nicht zustande kommen … hättest du vielleicht Lust, mich zu begleiten?«, hatte Vanessa dann gefragt.
Sebastian hatte es die Sprache verschlagen. Das war bei ihm nicht selten der Fall, doch Vanessa reagierte sofort.
»Wenn du natürlich findest, dass ich ein wenig zu alt für dich bin …«, hatte sie begonnen, aber Sebastian hatte sie in der Hinsicht schnell beruhigen können.
»Du bist kein bisschen alt. Wenn überhaupt, dann habe ich es gern etwas älter … äh …«, hatte er gestammelt und sich gefragt, wo seine lose Zunge ihn jetzt schon wieder hineinmanövrierte.
»Was ist es dann?«, hatte Vanessa wissen wollen.
»Ich bin nur … äh … etwas klamm im Moment.« Sebastian war rot geworden. Nach der Arbeit noch einen trinken zu gehen, war eine Sache. Gleich ein ganzes Wochenende zu finanzieren, war etwas völlig anderes; besonders die Art von Wochenende, die Vanessa wahrscheinlich gewohnt war. Vanessa hatte bloß gelacht.
»Oh, du Dummerchen, das Zimmer ist schon bezahlt. Essen und Getränke auch. Was glaubst du denn, wofür wir die Spesenkonten haben?«
Und so war es abgemacht: ein Wochenende in unverschämtem Luxus, in der Gesellschaft einer attraktiven, erfahrenen Frau. Was konnte ein junger Mann, der nichts auf sich hielt, sich Besseres wünschen? Die Klos würden auch nach Sebastians Rückkehr am Montag noch da sein, doch für zwei göttliche Tage lang wollte er leben, als ob es seine letzten auf Erden wären.
Vanessa hatte sich um neun mit ihm in Christ’s Hospital verabredet. Er wusste nicht, warum er nicht einfach mit ihr aus London hatte herfahren können, aber sie hatte darauf bestanden, dass sie vorher noch ein paar Last-Minute-Arbeiten erledigen wollte. Davon abgesehen, war die Zugfahrt ganz angenehm gewesen. Die City war in die Vorstädte übergegangen wie der Tag in die Nacht, bevor der Zug Sebastian gänzlich aus der Zivilisation heraus aufs Land verfrachtete. Er hatte in seinem kurzen, beengten Leben noch nicht viel vom Land gesehen, bloß als Kind einen einzigen Busausflug auf einen Bauernhof mitgemacht. Dort hatte es seltsam gerochen, war kalt, schlammig und trostlos gewesen und außerdem hatte es sein bestes (und einziges) Paar Adidas-Schuhe ruiniert. Soweit er jetzt vom Bahnhof aus sehen konnte, war alles noch genauso, wie er es in Erinnerung hatte.
Sebastian stellte seinen Kragen gegen den kalten Windzug im Nacken auf und hoffte, Vanessa würde bald hier sein.
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