»Kontrollstützpunkt, Herrgott noch mal, ist da irgendwer? Over.«
Endlich meldete sich eine blecherne Stimme im Ohr des rennenden Mannes.
»Hier Kontrollstützpunkt, identifizieren Sie sich, over.«
»Hier ist 18.« Der Mann verzichtete auf jegliche Höflichkeitsfloskeln. »Ich habe es gesehen. Ich habe das Ziel gesichtet, over.«
Auch wenn der es nicht wusste, bezog sich 18 damit nicht auf den Fuchs. Mit seinem schwarzen Sondereinsatzkommando-Overall, schallgedämpfter Maschinenpistole, Nachtsichtbrille, Kevlar-Körperpanzerung und Kampfmesser erschien er ohnehin etwas übertrieben ausgerüstet, um es nur auf einen Fuchs abgesehen zu haben. Andererseits:
Konnte man das von vierzig Vollblütern, sechzig Rassehunden und so vielen Sprösslingen aristokratischer Inzucht, wie seine Lordschaft auftreiben konnte, nicht auch behaupten? Und das hatte schließlich noch nie jemanden abgehalten.
Also ging der Fuchs kein Risiko ein. Er hielt den Kopf unten, die Augen offen und die Nase im Wind, während er beobachtete, wie 18 vorbeirannte.
»Verfolgt er Sie jetzt?«, fragte die blecherne Stimme in 18’s Ohr.
»Ich weiß nicht. Vielleicht. Wahrscheinlich. Ich muss hier weg«, antwortete 18, der sich weiter blindlings in unbestimmter Richtung durch das Blattwerk schlug.
»Atmen Sie tief ein, beruhigen Sie sich«, wies die Stimme ihn an. »Bleiben Sie stehen und zählen Sie bis fünf.«
»Das würde ich lieber nicht, wenn es Ihnen nichts ausmacht.« 18 ließ das strenge Militärprotokoll zugunsten schierer Unverschämtheit fahren.
»Tun Sie es, 18! Jetzt!« Die Stimme ließ ein Nein offensichtlich nicht gelten, besonders nicht von Neulingen in der Truppe.
»Negativ, Sir. Er ist bestimmt direkt hinter mir«, beharrte 18.
»Tun Sie es jetzt, Soldat! Das ist ein Befehl. Bleiben Sie stehen und zählen Sie bis fünf.«
Äußerst widerstrebend hörte 18 auf zu rennen und fing an zu zählen.
»Eins … zwei … drei …«
»Im Kopf, 18«, erinnerte ihn die Stimme. 18 verstummte und ergänzte die letzten beiden Zahlen lautlos, wenn auch begleitet von Lippenbewegungen.
»18? Sind Sie noch da?«, wollte die Stimme wissen.
18 kniff sich in den Arm, um sicherzugehen, und bestätigte: »Ja, Sir, sieht so aus.«
»Dann verfolgt er Sie nicht«, informierte ihn die Stimme.
»Woher wollen Sie das wissen? Woran merkt man das?«, fragte 18.
»Sie sind doch bis fünf gekommen, oder nicht?«
Obwohl es fast völlig dunkel war, konnte der Fuchs sehen, wie die Farbe aus 18’s Wangen wich. Dass die Stimme am anderen Ende so sorglos mit seinem Leben umgegangen war, würde der erfahrene Soldat ihr nicht vergessen. Er war ein Militär durch und durch; er hatte der britischen Armee in drei verschiedenen Einsatzgebieten gedient, aber dies war etwas anderes. Dies waren keine gewöhnlichen Kampfhandlungen. Es war etwas Unmenschliches. Das personifizierte Böse. Er hatte dem Colonel seine Loyalität geschworen, als er dessen Truppe beigetreten war. Aber das hatte er nicht getan, um den Kanarienvogel im Bergwerk für ihn zu spielen. Irgendwann kommt der Tod zu jedem, doch für 18 sollte er sich schon mehr anstrengen als üblich.
»Ich sage Ihnen, was Sie jetzt tun, 18. Ich will, dass Sie wieder dorthin zurückkehren, wo Sie das Ziel gesichtet haben, und ein Signal geben. Wir sind so schnell wie möglich bei Ihnen. Nehmen Sie den Sichtkontakt wieder auf und lassen Sie das Ziel diesmal nicht aus den Augen. Haben Sie das verstanden? Over.«
»Negativ, Sir, ich kann an der Straße zu Ihnen stoßen und Sie querfeldein zurück zum Standort des Ziels führen. Für die Annäherung an das Ziel brauche ich Verstärkung. Over.«
»Sie verstärken gerade meinen Ärger, 18. Falls uns diese Gelegenheit entgehen sollte, bekommen Sie es mit mir zu tun. Und ich bin niemand, der eine Enttäuschung einfach so schluckt. Jetzt zeigen Sie endlich Eier und erledigen Sie Ihre Aufgabe.«
18 versuchte das Bild von seinen eigenen Eiern in Verbindung mit dem schluckenden Colonel aus dem Kopf zu kriegen, während er die Alternativen abwägte.
Sich unter feindlichem Beschuss zurückzuziehen, war eine Sache, sich dem Gefecht gar nicht erst zu stellen, war eine ganz andere.
18 atmete tief durch und bestätigte: »Verstanden, Colonel. Over and out.«
Kaum hatte er sich auf dem Trampelpfad, den er gerade heruntergerannt war, umgedreht, kam direkt vor ihm etwas aus dem Unterholz geschossen. 18 hob seine Maschinenpistole und wollte gerade abdrücken, als er erkannte, was es war.
Ein Fuchs. Es war nur ein ganz normaler Rotfuchs. Im Licht des Ziellasers erstarrt, blickte das Tier direkt in die Mündung der Waffe.
18 senkte seine Maschinenpistole und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Der Fuchs schien das Gleiche zu tun. Einen Augenblick später war er verschwunden. Der Fuchs ging seines Weges und 18 ging in die andere Richtung, beide erschrocken und aufgewühlt, aber beide noch im Spiel. Fürs Erste.
Kapitel 2
Wie Sebastian wusste, fingen alle großen Abenteuer mit einer Reise an, und das Abenteuer dieses Wochenendes hatte da keine Ausnahme gebildet.
Er hatte am Freitagabend den Pendlerzug ab London Bridge genommen, war zuerst in East Croydon umgestiegen, danach in Three Bridges und dann noch einmal in Horsham, bevor er sich eingestehen musste, dass er keine Ahnung hatte, wo er sich befand.
An der vereinbarten Stelle stieg er aus dem Zug und nahm sich kurz Zeit, das Schild zu betrachten. Christ’s Hospital stand darauf. Sebastian hatte nie von diesem Ort gehört, aber es musste schon ein ziemlich gutes Hospital sein, wenn sie es geschafft hatten, Jesus wieder auf die Beine zu bringen, nach allem, was er durchgemacht hatte. Außer ihm waren keine Passagiere aus dem überfüllten Pendlerzug ausgestiegen – ein sicheres Anzeichen für eine blühende Metropole – und nach dem schrillen Pfiff des Bahnhofsvorstehers sowie dem Biep-biep-biep der Türen rollte der Zug langsam aus dem Bahnhof und ließ Sebastian im tiefsten, dunkelsten Sussex zurück.
»Kann man hier irgendwo was zu trinken bekommen?«, fragte Sebastian den Stationsvorsteher.
»Nur ich«, antwortete der und nahm einen Schluck aus seinem Flachmann, bevor er sich wieder in sein warmes Kontrollhäuschen zurückzog.
Genau, wie er befürchtet hatte. Sebastian war kein Fan ländlicher Gegenden. Auf Postkarten störten sie ihn nicht weiter, aber in natura war man auf dem Land immer etwas zu weit vom nächsten Wetherspoons-Pub entfernt.
Glücklicherweise war Sebastian ein vorausschauender Mensch. Er hatte in London Bridge ein Viererpack Dosenbier gekauft und mit einer Weitsicht, die Churchills würdig war, die letzte Dose für genau diese Art Notfall aufgehoben. Beim Verlassen des Bahnhofs entdeckte er eine gemütliche Bordsteinkante, auf der er sich niederlassen und seine Tasche durchwühlen konnte. Die Dose war noch da, zwischen seinen Wechselsocken und der Ersatzunterhose, und ihre laue Temperatur lag noch im genießbaren Bereich.
Er riss die Dose auf, bespritzte seine Hand mit Schaum und gab ihr einen liebevollen Kuss. So. Das wäre geschafft.
Sebastian warf einen Blick auf die Bahnhofsuhr. Kurz vor neun. Bald würde sie hier sein. Und er konnte es kaum abwarten.
Vanessa war eine tolle Frau, daran gab es keinen Zweifel. Was sie allerdings ihrerseits in einem schmächtigen Kerl wie Sebastian sah, konnte er nur mutmaßen. Späte Dreißiger, geschieden, attraktiv und offensichtlich reich, war Vanessa die personifizierte Femme fatale oder, wie die Jungs in Sebastians Putzkolonne zu sagen pflegten, eine »echt heiße Milf«.