EAT LOCAL(s) - Rate, wer zum Essen kommt. Danny King. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Danny King
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958353084
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war schon mitten in seiner Rede, bevor die Hälfte seiner Kollegen überhaupt ihre Mäntel ausgezogen hatte.

      »… und das brauche ich euch doch gar nicht zu erzählen. Ihr habt alle ein gutes Gedächtnis. Ihr habt gesehen, was ich gesehen habe. Unsere grüne Insel wird langsam grau: Landsitze werden zu Neubaugebieten gemacht, Nationalparks zu Einkaufsparks, Gras wird zu Glas, Reitwege zu Autobahnen und Provinzgemeinden zu wuchernden Großstadtdschungels.« Anstatt sich hinzusetzen wie alle anderen, tigerte er um den großen runden Tisch herum, der das Zentrum in der Landhausküche der Thatchers bildete. Nach einer Kunstpause richtete er seine Augen auf den Duke. »Neun Millionen …«

      Ein vernehmliches Aufstöhnen drohte Boniface das Wort abzuschneiden, aber der ließ sich nicht so einfach abwürgen.

      »… nein, nein, lasst mich ausreden. Neun Millionen. Das ist die Gesamtbevölkerung meines Territoriums. Und wie ist es bei dir?«, fragte er, wobei er sich aus der Gruppe frustriert zu ihm aufschauender Gesichter wieder das des Dukes aussuchte.

      Der Duke fragte sich, wie lange Boniface wohl an seiner Rede gearbeitet hatte. Dies hörte sich nicht nach einer Einleitung aus dem Stegreif an, besonders das Eröffnungsmanöver mit den Landsitzen und Autobahnen et cetera. Da hatte jemand in den Wochen vor diesem Treffen seine Wörterbücher gewälzt. Trotzdem war der Duke nicht bereit, auf Bonifaces Provokation einzugehen.

      »Wirklich, Peter? Wir treffen uns nur alle fünfzig Jahre und du wirst ein immer unerträglicherer Langweiler«, wollte er dem jüngeren Mann den Wind aus den Segeln nehmen, doch es war vergebens. Boniface hatte in der Tat seit Wochen an diesem Sermon gefeilt und er würde sich nicht von seinem roten Faden abbringen lassen, nur weil niemand davon hören wollte.

      »Zehn Millionen«, beantwortete Boniface seine Frage selbst, als er merkte, dass der Duke es nicht tun würde.

      »Und ich weiß jeden Einzelnen davon zu schätzen«, entgegnete der, was zweifellos richtig, wenngleich etwas boshaft war.

      Irgendwo hinter Boniface schwang die alte Verriegelungstür auf und der erste Gast der Thatchers an diesem Abend trat ein. Mr. Chen behielt seine dunkle Brille auf, stellte aber die Flinte neben der Tür ab. Draußen war es kalt und die weit geöffnete Tür ließ einen Schwall eisiger Luft herein, doch niemand bemerkte es. Boniface schwadronierte noch immer, seine Kollegen versuchten noch immer, ihn zum Schweigen zu bringen, und die Wanduhr tickte noch immer hinter dem kühlen Kopf des Dukes.

      »Zwanzig Minuten«, flüsterte Chen dem Duke ins Ohr, wobei er ihm ein Stück Papier reichte, auf das die Kurzfassung des Anrufs gekritzelt war, den er gerade erhalten hatte.

      »Sehr gut«, antwortete der Duke. Mit einer Kopfbewegung Richtung Tür schickte er Chen samt seiner Flinte zurück in die kalte Winternacht. Boniface hatte die gewechselten Worte kaum wahrgenommen; trotzdem würden sie noch einen großen Einfluss auf die Geschehnisse dieses Abends haben.

      »Ich lege hier nur die Fakten dar«, brummte Boniface in seinem breiten schottischen Akzent, der nach und nach immer mürrischer klang, je gekränkter er sich fühlte.

      »So, wie du sie siehst«, mischte sich Alice endlich ein. Es ärgerte sie, dass laut der Statuten des Zirkels alle acht Mitglieder gleiches Stimmrecht hatten, sie aber dennoch immer und immer wieder derselben Stimme zuhören mussten.

      »So, wie sie sind«, gab Boniface zurück und starrte die nette alte Dame vor sich so grimmig an, als ob ihre Haare Schlangen wären. »Neun Millionen und zehn Millionen«, bekräftigte er noch einmal, wobei er auf sich selbst und den Duke zeigte. »Vier Millionen, acht Millionen, sechs Millionen«, fuhr er dann fort, nacheinander auf Alice, Angel und Thomas weisend.

      »Ziehen Sie jetzt die ersten beiden Zahlen, an die Sie gedacht haben, ab und addieren Sie sieben«, warf Angel dazwischen, sehr zum Ärger von Boniface. Er konnte nächtelang durchdiskutieren (und würde das auch ohne zu zögern tun, wenn es sein musste), aber Spott brachte ihn aus dem Konzept. Angel wusste um diesen Schwachpunkt und hatte immer großen Spaß daran, ihn aufzuziehen.

      »Zweieinhalb Millionen«, kehrte Boniface zu seinem einstudierten Text zurück, diesmal Henry herausgreifend. »Dabei nährt er sich nicht einmal von ihnen.«

      Das war mehr, als Henry hinzunehmen bereit war. Wütend funkelte er seinen Angreifer an. »Ist das der Grund, warum du meinst, du könntest in meinem Revier wildern?«

      »Nördlich der Grenze ist mein Revier. Südlich davon ist deins.«

      »Berwick liegt in England«, informierte Henry.

      Das war Boniface neu. Das letzte Mal, als sie diese Meinungsverschiedenheit gehabt hatten, war Berwick in Schottland gewesen. Wann war es übergewechselt?

      »Gentlemen, Gentlemen, einen Streitpunkt nach dem anderen bitte. Ich glaube, ich bin immer noch der Ranghöchste«, unterbrach der Duke, um etwas Ordnung in die Sitzung zurückzubringen. Aber Boniface hatte seinen Standpunkt noch nicht durchgesetzt. Er lief im Raum hin und her wie ein eingesperrtes Tier, während die meisten der anderen ihn mit den Augen verfolgten. Bis auf Alice. Sie wandte sich wieder ihrem Strickzeug zu. Sie strickte nichts Bestimmtes und war sowieso nicht gerade begabt darin. Wenn sie fertig war, würde sie nur ein paar Wollknäuel zu einem formlosen Lappen zusammengewurschtelt haben, den sie dann ins Feuer warf, aber mehr als alles andere war ihr das Stricken zur Gewohnheit geworden. Sie tat es, weil es ihren Händen etwas zu tun gab und ihr half, sich einzufügen. Es war Teil ihrer äußeren Erscheinung, Teil ihrer Tarnung, und inzwischen strickte sie schon so lange, dass es Teil ihrer Identität geworden war. Wenigstens fühlte es sich für Alice so an.

      »Sechzig Millionen, Duke. Sechzig Millionen und kein Ende in Sicht«, verkündete Boniface. »Dabei erinnere ich mich noch daran, wie die Bevölkerung bei nur sechs Millionen lag. Und wir waren damals acht und sind heute immer noch acht.«

      »Denkst du etwa an Fortpflanzung, Peter?«, lächelte der Duke, wobei er Bonifaces Angewohnheit übernahm, Fragen zu stellen, deren Antwort er bereits kannte.

      »Oh nein, ich bin zufrieden mit den Freunden, die ich habe, vielen Dank«, schnaubte Boniface, der den Sarkasmus im Ton des Dukes nicht bemerkt hatte.

      »Das bin ich auch«, schnappte Alice. »Aber ich würde es gern vermeiden, morgen mit euch allen hier festzusitzen, also kommt zur Sache.«

      Boniface machte eine dramatische Pause und wartete, dass sich stille Ehrfurcht über den Raum senkte, oder jedenfalls etwas, das ihr möglichst nahekam.

      »Quoten«, fasste er dann endlich das heiße Eisen an.

      »Was sagt denn unsere Tagesordnung?« Angel drehte das Blatt Papier um, das sie fast für die gesamte Dauer von Bonifaces Vorrede in der Hand gehalten hatte. Darauf stand nur ein Wort: QUOTEN.

      Henry grinste. Der Duke seufzte. Thomas stöhnte. Alice murrte. Und Boniface machte ein finsteres Gesicht.

      Draußen blieb Chen weitgehend gleichgültig. Er kannte die Diskussion, die gerade ohne ihn stattfand, auswendig. Es war die gleiche, die sie bei ihrem letzten Treffen geführt hatten, und ebenso bei dem davor. Tatsächlich hatten sie schon so lange, wie sie sich trafen, diesen immer gleichen Streit.

      Und doch änderte sich nie etwas. So viele Worte. Immer dasselbe Ergebnis. Die Zeiten änderten sich und dennoch änderten sie sich nicht. Vielleicht war das das Problem. Sie waren eine vom Aussterben bedrohte Art. Ihre Zeit war gekommen, zwischen den Seiten der Geschichtsbücher zu verschwinden, doch ein paar von ihnen konnten sich immer noch halten – gerade eben. Und nur, wenn sie die Regeln befolgten.

      Vor langer Zeit hatten sie einmal gejagt wie Löwen. Jetzt schlichen sie herum wie … nun, wie Füchse eigentlich, fand Chen, als er einen Blick auf den anderen Gast der Thatchers erhaschte, der an der Scheune vorbeiflitzte und sich unter den Stall drückte, immer noch in der Hoffnung, heute Nacht eine Mahlzeit zu ergattern.

      Chen hätte dem Fuchs gerne den Hühnerstall geöffnet, damit er sich bedienen konnte, aber der Fuchs war zu argwöhnisch. Er hatte die Schusswaffe gesehen und wusste, was sie anrichten konnte. Er würde seine Zeit abwarten. Nur zuschlagen, wenn es sicher war. Und lange genug leben, um im Morgengrauen seinen Bau wiederzusehen.