In solchem Sinne wirkte innerhalb des Vereins namentlich Jean Baptiste von Schweitzer, ein geistreicher Wüstling, der die socialdemokratische Agitation wie einen aristokratischen Sport trieb und auf den Schultern der Arbeiter zu Ansehen, Macht, Ruhm emporsteigen wollte. Das Mißtrauen der Vereinsmitglieder gegen den blasirten Lebemann, die Scheu der Gräfin Hatzfeldt vor dem überlegenen Kopfe hatten ihn gehindert, sofort nach dem Tode Lassalle’s die Zügel der Alleinherrschaft an sich zu reißen; nur des Vereinsorgans hatte er sich bemächtigen können, das seit 1865 unter dem Titel „Der Socialdemokrat“ erschien. Schon im Frühjahre dieses Jahres bekannte sich Schweitzer in diesem Blatte zu den deutschen Reformplänen des Ministeriums Bismarck; damit schwand für Engels, Liebknecht, Marx die letzte etwa noch vorhandene Hoffnung, den Brander, der einst Lassalle und sein Glück trug, unbemerkt in das Fahrwasser des internationalen Arbeiterbundes leiten zu können; sie kündigten seiner „falschen und verrätherischen Flagge“ wütende Fehde an.
Schweitzer ließ sich dadurch nicht beirren, sondern schritt sicher auf dem eingeschlagenen Wege weiter. Gleichviel mit welchen Mitteln, genug, er befreite sich von der unwillkommenen Bundesgenossenschaft der Gräfin Hatzfeldt; sie schickte sich zornig an, einen Gegenverein zu stiften, der in ihr die einzig wahre Prophetin des neuen Messias verehren sollte und der durch einige Jahre in einigen Gegenden des Königreichs Sachsen eine Art Scheinleben geführt hat. Dann unternahm Schweitzer im Frühjahre von 1866 eine große Agitationsreise durch ganz Deutschland, um überall in Arbeiterkreisen für die deutsche Einheit unter preußischer Führung zu wirken. Seine Rechnung trog ihn nicht; zu den großen Errungenschaften des Jahres 1866 gehörte das allgemeine Stimmrecht. Bei seiner ersten Bethätigung, bei den Wahlen für den constituirenden Reichstag des Norddeutschen Bundes im Frühjahr von 1867, eroberte der Verein zwar noch keinen parlamentarischen Sessel, aber Schweitzer gewann in Elberfeld-Barmen doch schon eine so große Anzahl von Stimmen, daß eine Stichwahl zwischen dem Grafen Bismarck und Herrn von Forckenbeck, dem conservativen und dem liberalen Candidaten, notwendig wurde.
Auf Befehl Schweitzer’s gaben seine Wähler den Ausschlag, „nicht zwar für den Candidaten der conservativen Partei, wohl aber für den Minister, der aus eigenem Antriebe den Arbeitern ein Volksrecht zurückgegeben, welches die liberale Opposition für sie zu fordern so hartnäckig vergessen hatte“. Bei den Herbstwahlen desselben Jahres für den ersten und, wie sich später erwies, auch einzigen Reichstag des Norddeutschen Bundes gelang es Schweitzer dann selbst, das vielumstrittene Mandat und daneben noch ein paar Sitze zu erwerben; diese Erfolge verschafften ihm im Verein solch Ansehen, daß er nun auch alsbald zum Präsidenten gewählt wurde. Damit löste sich das Schiff endlich von der Sandbank, auf welcher es seit Jahren saß, und glitt unter der festen Hand eines verschlagenen und vielkundigen Steuermanns wieder auf die hohe See der stürmischen Zeit.
Zugleich mit Schweitzer traten aber auch schon die beiden Männer in den norddeutschen Reichstag ein, welche als Boten der Internationale den Krieg der besitzlosen gegen die besitzenden Classen auf deutscher Erde zum hellen Brande schüren sollten. Als das Tafeltuch zwischen dem nationalen Arbeiterverein und dem internationalen Arbeiterbunde unheilbar zerschnitten war, warf sich Liebknecht, der langjährige Vertraute von Engels und Marx, ganz und gar in die particularistische Agitation. Sein Hauptquartier wurde Leipzig, wo er anfangs die „Mitteldeutsche Volkszeitung“, dann das „Demokratische Wochenblatt“ herausgab. Gleich seinen Lehrern und Meistern von maßlosem Preußenhasse zerfressen, hat er gegen den nationalen Staat gewüthet, wie kein Zweiter. Und wie kein Zweiter, selbst unter den Sendlingen der Internationalen in allen europäischen Ländern, hat er jene demagogische Methode verstanden und verwirklicht, die dem Zukunftsstaate den bequemen und breiten Weg öffnen soll – jene unnennbare Art und Weise des Kampfes, die unendlich viel mehr zur Entsittlichung und Verwilderung der Massen beigetragen hat, als alle Propaganda für die theoretische Ziele.
In Deutschland hat Liebknecht, erfolgreicher und geschickter als es irgendwo sonst geschehen ist, eingeleitet wie durchgeführt, was die Londoner Häuptlinge unter revolutionärer Aufregung und Erbitterung der Arbeiter verstehen Das gewerbsmäßige Ausrotten des Glaubens an die sittlichen Grundlagen von Gesellschaft und Staat, das Entstellen und unterdrücken geschichtlicher Thatsachen, das grundsätzliche Schmähen des Vaterlandes, seiner höchste Güter und seiner theuersten Ueberlieferungen, das aufreizende Gerede von der Aussichtslosigkeit jeder friedlichen Reform, von der Unvermeidlichkeit eines gewaltsamen Umsturzes, das persönliche Beschimpfen und Verleumden jedes noch so sachlichen Gegners, alles das ist von diesem blinden und gewissenlosen Fanatiker in ein weitverzweigtes System gebracht worden, und zwar zunächst noch immer unter particularistischer Maske. Ueberhaupt wäre es bei Liebknecht’s abstoßendem und unsympathischem Wesen wohl die Frage einer langen Zeit gewesen, wann er einen namhaften Anhang unter den deutschen Arbeitern gewonnen hätte, wenn es ihm nicht gelungen wäre, einen einzelnen einflußreichen Arbeiter, den Drechsler Bebel, in die Gedankennetze des internationalen Arbeiterbundes zu verstricken. Bis dahin war Bebel ein heftiger Gegner Lassalle’s, ein eifriger Anhänger der Fortschrittspartei, ja in gewissem Sinne der Führer aller fortschrittlich gesinnten Arbeiter in Deutschland gewesen. Er spielte von jeher eine große Rolle in dem „Verbande deutscher Arbeitervereine“, den die Fortschrittspartei gegründet hatte, um der socialdemokratischen Agitation entgegen zu wirken, er war seit 1865 Mitglied, seit 1867 sogar Vorsitzender des Ausschusses, welcher den Verband leitete. In demselben waren mehr als hundert Vereine vertreten, die mehr als fünfzehntausend Mitglieder umfaßten. Diese erlesene Schaar ehrenwerther und einsichtiger Arbeiter war ausersehen, die Kerntruppe in dem streitenden Heere des Zukunftsstaates zu werden, und nach dreijährigem Werben wurde sie es, nicht sowohl durch Liebknecht’s, als durch Bebel’s Einfluß und Mühe.
Was diesem einfachen, aus dem ärmste Proletariat hervorgegangenen Arbeiter so große Erfolge verschafft hat, ist nicht eigentlich eine hervorragende Begabung, noch weniger ein ungewöhnliches Wissen, sondern die Macht und Wucht seiner ganzen Persönlichkeit, in welcher sich alle kennzeichnenden Eigenschaften derjenigen modernen Arbeiter vereinigen, die mit ernstem Bewußtsein einen höheren Antheil an den Gütern der modernen Cultur erstreben, als ihnen augenblicklich beschieden ist. Fleißig, geschickt, treu in seinem Berufe, sittenrein in seinem bürgerlichen Leben, geistig rege, scharfsinnig, mit einer Art instinctiven Blickes begabt für große Gesichtspunkte und dabei doch anspruchslos, bescheiden, selbstlos in seinem öffentlichen Wirken, ist er gleichsam die classische Gestalt der heutigen socialdemokratischen Bewegung, so weit dieselbe einen ernsthaften geschichtlichen Hintergrund hat.
Bebel war durch seinen starken Anhang unter den Arbeitern bereits in den constituirenden Reichstag des Norddeutscheu Bundes gelangt; hier gab er sich noch ganz als particularistischen Demokraten und leugnete sogar, irgend welche Gemeinschaft mit der Socialdemokratie zu haben. Eben die gleiche „politische Heuchelei“ trieb er gemeinsam mit Liebknecht fort, als beide in den norddeutschen Reichstag selbst eintraten. Namentlich Liebknecht hielt es für angezeigt, nur als zartfühlender Patriot in der Versammlung aufzutreten; er wies mit tragischer Geberde aus sein durch die „Zerreißung Deutschlands“ mit zerrissenes Herz.
Ungleich verständiger benahm sich Schweitzer, der von sich und seinem Verein bekannte, daß sie innerhalb des neu sich bildenden Vaterlandes stehen wollten. Mit ihm gingen der Lohgerber Hasenclever und der Arzt Reincke, an dessen Stelle später der Cigarrenmacher Fritzsche trat. Sie betheiligten sich gelegentlich in sachlicher Weise an der Berathung namentlich wirthschaftlicher Gesetze; auch Bebel’s gesunde Natur war nicht völlig zu unterdrücken, und er hat manche Versuche gemacht, beispielsweise in der Gewerbeordnung die besonderen Arbeiterinteressen zur gesetzgeberischen Geltung zu bringen. Darob entbrannte Liebknecht in grimmem Zorn und rief den Berliner Arbeitern das geflügelte Wort zu: „Nur Kurzsicht oder Verrath können parlamenteln;“ er erklärte für den einzigen Nutzen der parlamentarischen Tribüne, daß von ihr aus am zweckmäßigste das Signal gegeben werden könnte, wenn die Dinge reif seien zum gewaltsamen Dreinschlagen.
Neben den beiden Dioskuren des internationalen Arbeiterbundes einerseits, Schweitzer und seinen beiden Adjutanten andererseits saßen noch zwei Jünger der Gräfin Hatzfeldt, der Kupferschmied Försterling und der Advocatenschreiber Mende, im norddeutschen Reichstage. So befanden sich siebe Mandate in den Händen der Umsturzpartei, eine beschämend geringe Ziffer,