Um so kläglicher schwankte der deutsche Zweig des internationalen Arbeiterbundes hin und her. Zwar, daß Marx bei Ausbruch des Krieges Frankreich von Paris und Deutschland von – Braunschweig aus, wo damals das Hauptquartier seiner deutschen Anhänger war, habe insurgiren wollen, ist ein reactionäres Märchen, für welches noch keine Spur von Beweis erbracht worden ist und auch niemals erbracht werde kann. Im Gegentheil, der Londoner Generalrath rieth in seinen Manifesten namentlich den französischen Arbeitern von jeder vorzeitigen Schilderhebung ab; er sah den Erfolg der deutschen Waffen voraus, und er wünschte ihn auch, wenigstens vorläufig. Natürlich nicht um der gerechten Sache willen, sondern in der schlauen Berechnung, daß ein französischer Sieg die deutschen Herzen in der Gluth vaterländischen Zorns nur noch fester zusammenschmieden werde, während ein deutscher Triumph unfehlbar zum Sturze des zweiten Kaiserreichs führen müßte.
Trotzdem konnte sich Liebknecht, der deutsche Apostel des Bundes, als Reichstagsmitglied, nicht entschließen, in der Stunde der höchsten Gefahr für sein Vaterland eintreten. Er, wie auch leider der von ihm beeinflußte Bebel, enthielt sich der Abstimmung, als die Mittel zur Kriegführung gegen Frankreich bewilligt wurden. Beide erklärten schriftlich, daß eine Zustimmung zur Kriegsanleihe ein Vertrauensvotum für die preußische Regierung sein würde, welche 1866 den gegenwärtigen Krieg vorbereitet habe, während ihre Verweigerung als Billigung der verbrecherischen Politik Bonaparte’s aufgefaßt werden könnte. Erfreulicher Weise erregte diese unwürdige Neutralität im eigenen Lager vielfach den lebhaftesten Unwillen; höchst unzufrieden war namentlich auch der leitende Partei-Ausschuß in Braunschweig, dessen Seele der kürzlich verstorbene Bracke war, eine der edelsten, liebenswürdigsten und reinsten Gestalten, welche jemals in der socialdemokratischen Bewegung aufgetreten sind. Bracke bewirkte, daß der Ausschuß, um die Haltung von Bebel und Liebknecht wieder gut zu machen, einen Aufruf an die Partei erließ, welcher zwar nicht frei war von mancherlei schiefen und verworrenen Wendungen, aber doch patriotische Hingebung athmete.
So drohte innerer Zwist vollends zu zerstören, was noch von fester Partei-Organisation vorhanden war. Da trat in dem Kriege die Wendung ein, auf welche Marx gerechnet hatte; die Schlacht von Sedan stürzte den Thron des dritten Napoleon und die Republik wurde seine Erbin. In einer Republik Gambetta-Thiers sah Marx freilich nicht sein Ideal, aber trotz alledem – es gab wieder eine französische Republik mit unberechenbaren Chancen für proletarische Aufruhrneigungen; ihre weitere Schwächung oder gar Vernichtung durch ein monarchisches Reich widersprach allen revolutionären Interessen. So gab denn Marx das Feldgeschrei aus, daß um jeden Preis Friede geschlossen, daß namentlich die Annexion von Elsaß-Lothringen gehindert werden müsse.
Inzwischen hatte es der gleißende Name der Republik auch schon von selbst dem schwärmerischen Gemüthe Bracke’s angethan; er fügte sich ohne Weiteres, als die neuen Befehle aus London eintrafen. Der Braunschweiger Ausschuß erließ einen zweiten Aufruf an die Partei, in welchem er zu Massenkundgebungen des Volkes für einen ehrenvollen Frieden mit der französischen Republik und gegen die Annexion von Elsaß-Lothringen anforderte; in seinem wesentlichen Inhalte bestand das Manifest aus dem Briefe, den Marx an den Ausschuß gerichtet hatte. Nichts ist bezeichnender für die vielgerühmte „Loyalität“ und „Vaterlandsliebe“ der communistischen Demagogie, als die Schimpfworte, die der große Häuptling des Umsturzes über das deutsche Volk in der größten Krisis seiner Geschichte ausschüttete. So schrieb er: „Ich fürchte, die Schurken und Narren werden ihr tolles Spiel ungehindert treiben, wenn die deutsche Arbeiterclasse nicht en masse
ihre Stimme erhebt.
Was Wunder, daß Liebknecht mit einem jubelnden „Hurrah!“ dieser ruchlosen Beschimpfung aller patriotischen Elemente beistimmte; ein ernsterer und klügerer Parteigänger schrieb freilich besorgt über die Wirkung des Aufrufs nach Braunschweig: „Man wird uns todt schlagen wie tolle Hunde, und man wird dazu noch Recht haben.“
Nun, diese düstere Prophezeiung erfüllte sich glücklicher Weise nicht, wohl aber ließ General Vogel von Falckenstein als Generalgouverneur der Küstenlande Bracke und seine Collegen vom Ausschusse kurz nach Erlaß ihres Aufrufs aufheben und in die Beste Boyen bei Lötzen einthürmen. Einige Monate später wurden auch Bebel und Liebknecht unter der Anklage des Hochverraths verhaftet, unmittelbar nachdem im December 1870 die letzte Session des Norddeutschen Reichstages geschlossen worden war, welche über die Bewilligung neuer Kriegsanleihen, die Versailler Verträge mit den süddeutsche Staaten, die Schöpfung von Kaiserthum und Reich zu berathen und zu beschließe hatten. In allen diesen grundlegenden Fragen bildeten die socialdemokratischen Abgeordneten eine unversöhnliche Opposition, einschließlich der Lassalleaner, welche nun auch eine klingende Schelle, der Name der französischen Republik, so unwiderstehlich in hoffnungslose Wirrniß lockte, wie die Pfeife des Rattenfängers einstmals die Kinder von Hameln.
Im März von 1871 ergaben die Wahlen zum ersten deutschen Reichstage unwiderleglich den gänzlichen Niedergang der socialdemokratischen Bewegung. Von den bisherigen sieben Abgeordneten der Partei siegte nur Bebel in dem Wahlkreise Glauchau-Meerane, der allein unter allen deutschen Wahlkreisen seit Einführung des allgemeinen Stimmrechts bis auf den heutigen Tag sich den seltsamen Ruhm gewahrt hat, immer socialdemokratisch zu wählen. Nach beendeter Wahl wurden die Braunschweiger und Leipziger Gefangenen aus der Untersuchungshaft entlassen. Später haben sie bekanntlich vor Gericht gestanden und sind verurtheilt worden, Bracke und Genossen in Braunschweig zu einer geringen Gefängnißstrafe wegen Theilnahme an einem gesetzwidrigen Vereine, Bebel und Liebknecht durch ein Leipziger Schwurgericht zu zweijähriger Festungshaft wegen Vorbereitung des Hochverraths. Das letztgedachte Verfahren hat einschneidender Kritik reichen Stoff geboten; sei es nun mit Recht oder Unrecht – in jedem Falle war der Gewinn des Einsatzes nicht werth; die beiden Agitatoren hatten als Parteiführer so gründlich verspielt, daß sie als „Märtyrer“ nicht einen Theil der Partie wieder zu gewinnen vermochten.
Ein fast noch schwererer Schlag, als er dieser Fraction durch die gerichtlichen Verfolgungen zugefügt wurde, traf die Lassalleanische Seite durch den Rücktritt Schweitzer’s. Weshalb der gewandte und kluge Mann plötzlich die Hand von dem Pfluge zog, den er ein halbes Jahrzehnt mit bemerkenswertem Geschicke geführt hatte, ist noch nicht hinlänglich aufgeklärt; ein geistreicher Abenteurer, wie er war, fand er vermuthlich das ganze Treiben nach den zerschmetternden Schlägen von 1870 zu hoffnungslos und zu thöricht. Jedenfalls ist die Annahme, daß er ein bestochener Agent des Fürsten Bismarck war, eine lächerliche Einbildung, so weit sie ihn selbst, eine böswillige Verleumdung, so weit sie den Reichskanzler betrifft.
Zwar wenn man Liebknecht und Genossen reden hört, so ist die Sache „bewiesen“ und „notorisch“. Aber man frage nur nicht wie? Erst die letzten Wochen haben wieder einen schlagenden Beweis dafür geliefert, daß mit gleichem Recht das Gleiche in Betreff Liebknecht’s selbst bewiesen werden könnte. Was als Hauptgrund für Schweitzers Achselträgerei angeführt wurde, war seine maßvolle Haltung im Norddeutschen Reichstage; eben dies „Parlamenteln“ erklärte Liebknecht für „Verrat“ in einer noch gedruckt vorliegenden Flugschrift, in welcher er selbst den nackten Waffenaufruhr predigte. Inzwischen sind zehn Jahre in’s Land gegangen, und die Dinge haben sich mannigfach geändert. Heute versucht Liebknecht im Reichstage so maßvoll zu sprechen, wie es Schweitzer seiner Zeit that; dagegen ist Hasselmann, der damalige Adjutant Schweitzer’s, in die abgelegte Garderobe Liebknecht’s gefahren; er verurtheilt, geradezu mit denselben Worten, das „parlamentarische Geschwätz“ als unnützen Zeitverderb, verkündet schauerliche „Thaten“ des Proletariats und wird eben darauf hin von Liebknecht öffentlich beschuldigt, daß er vom Fürsten Bismarck bezahlt werde oder doch bezahlt zu werden verdiene. Man sieht, diesen Gerechten müssen alle Dinge zum Besten dienen. Aber von zwei Dingen Eins! Entweder hatte Liebknecht gegenüber Schweitzer Recht – dann handelt er heute, oder er hat gegenüber