Gesammelte historiografische Beiträge & politische Aufsätze von Franz Mehring. Franz Mehring. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Franz Mehring
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9788027207824
Скачать книгу
noch auf einander, aber der echte und rechte Demagogenneid fehlte, der solch elendes Gezänk aus die Dauer allein gedeihen lassen kann. Mit der Minderung der persönlichen Kämpfe wachs aber zugleich die sachliche Annäherung der beiden Flügel. Die Lassalleanische Secte hatte unter den unfähige Nachfolgern Schweitzer’s ihren eigentümlich nationalen Charakter nach und nach verloren; sie war mehr und mehr in das Fahrwasser des internationalen Arbeiterbundes geglitten; von neuem bewährte sich die Erfahrung, daß in revolutionären Parteien die wüthendere regelmäßig über die gemäßigtere den Sieg davonträgt.

      Nun kamen die Wahlen, und auch das blödeste Auge mußte erkennen, daß, wenn die Partei eine so ansehnliche Macht erworben hatte, es das ABC aller politischen Taktik erheischte, daß man die volle Kraft gegen den gemeinsamen Gegner richte, statt sich gegenseitig in häuslichem Zwist lahm zu legen – dies um so mehr, als die Gegner gar keinen Anstand nahmen, die feindlichen Brüder über einen Kamm zu scheeren; alsbald nach den Wahlen verfolgten die Polizeibehörden und Staatsanwaltschaften mit gleichem Eifer die Anhänger von Lassalle wie diejenigen von Marx. Nichts eint so sehr, wie gemeinsames Leid; das gegenseitige Mißtrauen schwand, und der Verschmelzung beider Fractionen stand kein ernstliches Hinderniß mehr im Wege.

      Diese Verschmelzung fand nach mancherlei Verhandlungen im Mai 1875 auf einem Parteicongresse zu Gotha statt. Man kann dabei eigentlich weniger von einer Vereinigung, als vielmehr nur von einer völligen Aufsaugung der Lassalleanischen Secte durch den deutschen Zweig des internationalen Arbeiterbundes sprechen.

      Obgleich jene 15,000 dieser nur 9000 aus dem Congresse durch Abgeordnete vertretene Anhänger musterte, so enthielt das neue Programm der Gesammtpartei doch kaum noch die leiseste Spur von den Gedanken Lassalle’s, dagegen enthüllte es den nacktesten Communismus in seiner ganzen Schönheit.

      Mit diesem Congresse endete der zweite große Abschnitt in der Geschichte der deutschen Socialdemokratie. Er umfaßte gewissermaßen die Kinderkrankheiten der Partei, von denen sie nach schwerem Ringen endlich gesundete. Hinfort konnte sie sich in ihrer schwefelgelben Glorie voll entfalten, konnte sie ihre ganze, nicht mehr durch innere Kämpfe verzehrte Kraft gegen die moderne Cultur, das reiche Erbe reicher Jahrtausende, zu Gunsten einer düsteren und ungewissen Zukunft wenden. Und volle drei Jahre hindurch hat sie diesen Kampf geführt mit einer Hartnäckigkeit und Rücksichtslosigkeit, wie sie in der modernen Culturgeschichte bisher ohne Beispiel sind.

      8. Die höchste Blüthe der deutschen Socialdemokratie.

       Inhaltsverzeichnis

      Die socialdemokratische Agitation im deutschen Reiche bietet während des dreijährigen Zeitraums, der sich vom Gothaer Vereinigungscongresse bis zu den Attentaten von Hödel und Nobiling erstreckt, in ihrer Art ein nicht minder fesselndes und merkwürdiges Bild, als die Pariser Commune. Wenn hier das aufrührerische Proletariat mit Feuer und Schwert die verrottete Welt umzuwälzen gedachte, so zeigte sich dort, was es mit seinem „friedlichen“ und „gesetzmäßigen“ Wirken auf sich hat. Es ist schwer zu sagen, welche von beiden Methoden furchtbarer und verhängnißvoller in ihren Folgen ist; alle Schrecken der blutigen Maiwoche verbleichen fast vor der langsamen und tödtlichen Vergiftung des nationalen Geistes, welche die deutschen Demagogen zu erreichen verstanden.

      Die Entwickelung der Partei während dieser Zeit in allen Einzelnheiten zu verfolgen, würde an dieser Stelle zu weit führen; es muß genügen, die eigentümlichsten und lehrreichsten Momente in einem allgemeinen Bilde zu sammeln. Glänzend bewährte sich die Hoffnung der einsichtigeren Agitatoren, daß die Vereinigung der beiden Fractionen die Kraft und Wucht der ganzen Bewegung nicht blos verdoppeln, sondern selbst verzwanzigfachen würde. Ein flüchtiger Umblick in dem Rüst- und Zeughause der Partei liefert hierfür schlagende Beweise.

      Die Parteicasse balancirte hinfort jährlich in Einnahme und Ausgabe mit durchschnittlich 60,000 Mark, einer Summe, welche nur den geringsten Theil der von armen Arbeitern für diese Agitation aufgebrachten Opfer enthält, selbst wenn man blos die Aufwendungen an baarem Gelde erwägt. Ungleich mehr verschlangen Gewerkschafts-, Local-, Wahlzwecke. Die Berliner Reichstagswahlen von 1877 kosteten allein 16,000 Mark. Davon wurden unter Anderem 1,400,000 Exemplare von Drucksachen hergestellt, deren Verbreitung unentgeltlich durch Parteigenossen bewirkt wurde. Man vermag schon aus diesem Beispiele zu erkennen, wie gering noch die Einbußen an Geld im Verhältnisse zu den Opfern an Kraft und Zeit waren, die von den bethörten Anhängern der socialen Revolution gebracht wurden.

      Die Hauptarmee des Umsturzes bildeten Agitatoren, Vereine, Zeitungen; man kann die ersten als die leichten Truppen, die zweiten als die Heersäulen des Fußvolkes, die dritten als die schweren Geschütze in der streitenden Armee des Zukunftsstaates bezeichnen. Am wenigsten ausgebildet war die erste Truppengattung; gewerbsmäßige Agitatoren wurden von der Parteicasse verhältnißmäßig wenige besoldet; man hatte die Zweischneidigkeit dieser Waffe erkannt. Diese Gevatter Schneider und Handschuhmacher, die „predigend reisten“ und von dem conservativen Socialpolitiker Rudolph Meyer sogar mit den Aposteln verglichen worden sind, boten in ihrem albernen Hochmuth und ihrer banausischen Unwissenheit den Gegnern zu starke Blößen wurden, auch den einsichtigeren Arbeitern nur zu bald verächtlich. Die klügeren Führer suchten sie mehr und mehr zurückzudrängen zu Gunsten der Parteipresse. Freilich darf dabei nicht übersehen werden, daß die Beamten und Vertreter der Partei, Abgeordnete, Redacteure, Expedienten etc., verpflichtet waren, wo und wie sie immer konnten, sich an der mündlichen Agitation zu betheiligen, ja daß in gewissem Sinne jedes gewandtere Mitglied der Partei ihr geborener Agitator war. Im Ganzen verfügte die Agitation über einige Hunderte geschulter Redner, die mit allen Wassern der Dialektik eines Lassalle und Marx gewaschen waren.

      Wichtiger war das Vereinswesen der Partei. Sie hatte zuletzt 26 größere Gewerkschaftsverbindungen geschaffen, welche etwa 50,000 Mitglieder an mehr als 1200 Orten zählten. Die jährliche Einnahme dieser Verbände belief sich auf 400,000, ihre jährliche Ausgabe auf 320,000 Mark. Nur die einfachste Gerechtigkeit gebietet, anzuerkennen, daß diese Vereine, nachdem der dauernde Nothstand ihr Strikefieber gründlich erstickt hatte, auch mannigfach nützlich und segensreich gewirkt haben. Von ihren Ueberschüssen wurden ihre Invaliden-, Kranken-, Reiseunterstützungscassen unterhalten. So besaßen die Gewerkschaften der Goldarbeiter und Buchdrucker ein Vermögen von 18,000, beziehungsweise 52,000 Mark in ihren Invalidencassen. Hier hat das Socialistengesetz leider auch manche fruchtbare Keime zerstört.

      Aber noch in anderer Weise wußte die deutsche Socialdemokratie das Vereinswesen für ihre Zwecke auszunützen. Nicht weniger als 20 Druckereien befaßten sich mit der Herstellung ihrer Literatur in periodischen und nichtperiodischen Druckschriften; darunter befanden sich 16 Genossenschaftsbuchdruckereien, an denen über 2500 Arbeiter und Kleinbürger mit ihren kleinen Ersparnissen betheiligt waren; sie beschäftigten ungefähr 400 Personen als Redacteure, Expedienten, Setzer, Drucker, und sie setzten jährlich in runder Summe über 800,000 Mark um. Schier unzählbar waren dann die sonstigen Vereine, in denen der Geist der Partei lebte. Bildungs-, Gesang-, Lese-, Theater-, Zeitungs-, Consum-, Unterstützungs-, Wahlvereine und wie sie sich sonst nennen mochten; ihre Namen wechselten tausendfach; in der Sache waren sie alle über denselben Kamm geschoren; in ihnen wurden die Rekruten geübt und geworben. Niemals noch hatte es eine andere Partei verstanden, so den ganzen Menschen zu erfassen, ihn mit seinen alltäglichsten Gewohnheiten unlöslich an sich zu ketten.

      Das schwere Geschütz endlich in dem communistischen Arsenale bildeten die bleiernen Lettern Gutenberg’s. Mit fabelhaftester Schnelle wuchs eine kleine Bibliothek socialdemokratischer Flugschriften und Bücher an; sie zählte einige hundert Nummern und vermehrte sich noch von Woche zu Woche. Vieles, das Meiste darunter ist reiner Schund, Manches passables Mittelgut, Einzelnes, wie die Schriften von Engels, Lassalle, Marx, Lange, Jacoby etc., gehört zu den namhaftesten Werken unserer politischen und socialen Literatur.

      Alle diese Erscheinungen fanden eine aufmerksame und weite Lesewelt im deutschen Arbeiterstande; in einer Berliner Volksversammlung rühmte sich einmal ein einfacher Arbeiter, daß er eine Broschüre Lassalle’s achtmal habe Zeile für Zeile durchackern müssen, um sie zu verstehen, aber nun habe er sie auch gründlich verstanden, und keine Macht der Welt