Soviel steht zunächst fest: was die Internationale nach der Absicht ihrer Stifter werden sollte, ist sie niemals auch nur im Entferntesten geworden. Sie hat nie einen Anhang von Millionen, vermutlich nicht einmal von zehntausend Mitgliedern gehabt. In England zählte sie immer nur vereinzelte Anhänger und auch diese nur vorübergehend; in Deutschland ist ihr Bestand nach dem unverdächtigen Zeugnisse eines namhaften Socialdemokraten kaum auf tausend Köpfe gestiegen; in Frankreich sammelte sie während der ersten Jahre ihres Daseins nur einige hundert Arbeiter um ihre Fahne; selbst noch 1870 vermochten sogar ihre Anhänger in Paris trotz aller Bemühungen nicht einmal ein wohlfeiles Wochenblättchen zu gründen. Die übrigen Länder zählen überhaupt erst in zweiter Reihe. Und noch schlimmer, als mit dem Heere, stand es mit den Finanzen der Internationale. Die spärlichen Beiträge ihrer spärlichen Mitglieder gingen mit der äußersten Unregelmäßigkeit ein. Wenn in der That nach einem geflügelten Worte zum Kriegführen drei Dinge gehören: Geld, Geld und wiederum Geld, so war die Internationale ein sehr friedliches Wesen. Sie hat niemals Geld, sondern immer Schulden gehabt; Briefe von Marx, die bei gerichtlichen Verhandlungen verlesen wurden, geben darüber die unumwundensten Aufschlüsse. Mit einem Worte: die Internationale als geschlossener Bund, als kämpfende Organisation war so ohnmächtig wie möglich.
Ganz anders lag es dagegen mit ihrer moralisch-psychologischen Bedeutung. In dieser Beziehung hat die Internationale allerdings einen mächtigen und unheilvollen Einfluß auf die sociale Entwickelung der letzten Jahrzehnte geübt. Marx hat, unterstützt durch die ängstliche Kurzsichtigkeit liberaler und die unbegreifliche Verblendung reactionärer Socialpolitiker, allezeit mit großem Geschicke verstanden, für sich und seine Zwecke den Zug der Mythenbildung auszunutzen, der trotz aller Aufklärung des neunzehnten Jahrhunderts in den unteren Schichten des Volkes noch eine äußerst lebendige und wirksame Macht ist. Namentlich in den romanischen Ländern ist es außerordentlich geglückt, jedem unzufriedenen Arbeiter den Glauben einzuflößen, als walte die Internationale wie eine geheimnißvolle und unsichtbare Macht schützend über seinen Geschicken. Sie hat schwerlich jemals aus eigener Kraft einen Strike aus dem Boden gestampft, noch weniger jemals einen siegreich durchgeführt, aber wo sich das drohende Gewitter einer Arbeitseinstellung zusammenzog, da haben ihre Sendlinge sicher gehetzt und gewühlt, um den letzten Hoffnungsstrahl glücklicher Einigung zu verscheuchen; gleich einem giftigen Insectenschwarme pflegte sich der Bund in die offenen Schäden des modernen Gesellschaftskörpers einzunisten. So wurde er ein Banner und Symbol für die gährenden Leidenschaften der arbeitenden Classen; als solches hat er den Blättern der zeitgenössischen Geschichte untilgbare Spuren von Blut und Feuer eingeprägt. Sehr bezeichnend für diese seine Bedeutung ist es, daß er in der allgemeinen Vorstellung noch immer als fortlebend und fortwirkend gedacht wird, obgleich er seit sieben Jahren gänzlich zerstört ist und Engels wie Marx ausdrücklich auf jeden Versuch verzichtet haben, einstweilen die zerrissenen Fäden neu zu knüpfen.
Die fünf Congresse der Internationale bieten nicht viel bemerkenswerte Gesichtspunkte, so weit es sich um die einzelnen Beschlüsse handelt. Dieselben versuchen mit größerem oder geringerem Geschick, die einzelnen Arbeits- und Erwerbszweige der heutigen Volkswirthschaft dem communistischen Grundgedanken anzupassen; sie ordnen an, wie das Gemeineigentum auf Bergwerke, Steinkohlenminen, Wälder, den landwirtschaftlichen Grund und Boden, Eisenbahnen, Telegraphen, Canäle etc. anzuwenden sei. Dagegen gewähren jene Parlamente des internationalen Proletariats politisch-psychologisch eine reiche Ausbeute. Sie zeigen namentlich einerseits, wie sehr der revolutionär-socialistische Gedanke unter den arbeitenden Classen der verschiedenen Länder um sich gegriffen, wie er sich aus der verschwommenen Schwärmerei der vierziger Jahre zu drohendem, praktischem Ernste geklärt hat, aber sie zeigen auch andererseits, wie fern die Gestaltung eines internationalen Arbeiterbundes noch ihrem Ziele ist, wie fern sie ihm vielleicht für immer bleiben muß. Die nationalen Charakterunterschiede machten fort und fort ihr unveräußerliches Recht geltend; sie werden es auch in Zukunft geltend machen.
Nur sehr widerstrebend gingen die englischen Arbeiter auf die Sache ein; sie suchten die Macht des Bundes meist nur für ihre praktischen Reformbestrebungen auszunutzen. Die französischen Arbeiter zeigten sich anfangs äußerst gelassen, kühl, ja geradezu feindselig gegen die communistischen Anschauungen von Engels und Marx; dann, als sie halb wider Willen auf die revolutionäre Bahn getrieben wurden, erwachte in ihnen mit voller Wildheit jene elastische Schnellkraft des Aufstandes, die ihr Volk seit hundert Jahren in so vielen Umwälzungen bewährt hat; sie, als die ersten und bisher einzigen Vorkämpfer des Proletariats, verstanden es, unter furchtbaren Erschütterungen die politische Macht in einem mächtigen Mittelpunkte des gesitteten Völkerlebens an sich zu reißen. Die deutschen Arbeiter verfochten allezeit, der philosophische Naturanlage ihrer Nation gemäß, die äußersten Schlußfolgerungen der socialdemokratischen Grundsätze; sie in erster Reihe wurden „Communisten“ gescholten von ihren französischen Cameraden, gegen deren hartnäckigen Widerstand sie beispielsweise auf dem Congresse zu Basel die Forderung des Gemeineigenthums an allem Grund und Bode durchsetzten. Der russische Nihilismus endlich erwies sich als viehische Brutalität, als gräulicher Wahnsinn, jene letzte Ordnung und Zucht verwüstend und zerstörend, deren auch die Revolution bedarf, um überhaupt im großen Stile verwüsten und zerstören zu können.
Die Haltung, welche die Vertreter der einzelne Länder auf den Congressen der Internationale einnahmen, entsprach durchaus der Entwicklung des Bundes in diesen Ländern selbst. In England schlossen sich ihm wenige Arbeiter an, und diese Wenigen suchten durch ihn den neunstündigen Arbeitstag, höhere Löhne, geschäftliche Sicherung nothwendiger Arbeitseinstellungen, also durchweg Ziele zu erreichen, die, ob sie in den einzelnen Fällen berechtigt und möglich sind oder nicht, jedenfalls auf dem Boden der heutigen Gesellschaftsordnung sich bewegen. Auf den Vorwurf, daß sie mit solcher Haltung die Zukunft der arbeitenden Classen opferten, erwiderten diese Männer kaltblütig: „Aber wir gewinnen die Gegenwart, und in ihr leben wir.“ Im Grunde war damit schon die praktische Wirksamkeit der Internationale mitten in’s innerste Herz getroffen. Denn es ist ein von Engels und Marx unzählige Male wiederholter Satz, daß jeder ernsthafte Versuch einer socialen Revolution sich allein auf England stützen kann, als das einzige Land, wo es keine Bauern mehr giebt, wo der Capitalbesitz in wenigen Händen zusammenfließt, wo die capitalistische Form sich der ganzen Besitz- und Erwerbsordnung bemächtigt hat, wo die große Mehrheit der Bevölkerung aus Lohnarbeitern besteht, wo der Classenkampf und die Organisation der arbeitenden Classe durch die Gewerkvereine schon einen gewissen Grad der Allgemeinheit und Reife erlangt haben.
Trotz dieser ungünstigen Umstände ist jener moralische Einfluß der Internationale, der ihre gefährlichste Waffe war, auch auf britischem Boden nicht unwirksam geblieben. Der Generalrath des Bundes beeiferte sich, die zahlreiche Strikes der Gewerkvereine, sei es auch wesentlich nur mit großen Worten, zu unterstützen und sich so ihre Dankbarkeit zu sichern. Namentlich ein taktisch sehr geschickter Schachzug gewann ihm nach und nach die Herzen jener einflußreichen Arbeiterschichten. Die englischen Arbeitgeber pflegten gewöhnlich Strikes durch die Einfuhr ausländischer Arbeiter lahm zu legen, und sie erzielten damit solche Erfolge, daß die bloße Möglichkeit einer derartigen Einwanderung in vielen Fällen genügte, die Arbeiter von der Aufrechthaltung ihrer Forderungen abzuschrecken. Hiergegen erließ der Generalrath der Internationale an seine festländischen Anhänger die Weisung, überall die Arbeiter vor Engagements mit solchen englischen Unternehmern zu warnen, deren heimische Arbeiter strikten. Dieser Dienst, mochte er auch nur mehr scheinbar als wirklich sein, wurde in der That von den Gewerkvereinen dankbar anerkannt; auf ihre Congressen zu Sheffield 1866 und zu Birmingham 1869 widmete sie dem Bunde anerkennende Beschlüsse. Aber die platonische Zuneigung wandelte sich schnell in gründlichen Abscheu um, als der Generalrath der Internationale nach der Niederwerfung der Pariser Commune sich für diesen Ausstand sammt allen seinen Gräueln erklärte. Nunmehr fielen alle englischen Arbeiter fast bis auf den letzten Mann ab, und Marx mußte sich in ohnmächtiger Wuth genügen lassen, die dortigen Arbeiterführer, wie Bradlaugh und Odger, als bestochene Handlanger der Regierung zu verleumden.
Noch weit bedeutsamer zeigt sich die materiell geringe, moralisch große Wirksamkeit der Internationale in der französischen Arbeiterbewegung. Hier gestaltete sich der Bund in seinen ersten Anfängen als