Gesammelte historiografische Beiträge & politische Aufsätze von Franz Mehring. Franz Mehring. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Franz Mehring
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9788027207824
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und augenblicklich auch äußerst selten gewordene Werk ein aus den Schattenseiten der neueren englischen Zustände unter Verschweigung ihrer Lichtseiten geschickt zusammengesetztes Nachtgemälde, das, in sehr vielen Einzelnheiten wahr, im Ganzen doch nur ein allerdings zur Aufreizung und Beunruhigung der Arbeiter höchst wirksames Zerrbild ist. Seitdem hat Engels nur eine längere Reihe kleinerer, meist agitatorischer, wenn auch äußerst geistreicher Schriften verfaßt, bis er in jüngster Zeit wiederum ein größeres Werk veröffentlichte, das äußerlich zwar auch nur als Polemik gegen einen wissenschaftlichen Gegner auftritt, aber in seinen fachlichen Ausführungen eine Fülle werthvoller Beiträge zur Lehre der modernen Socialwissenschaft enthält.

      Bedeutender noch und jedenfalls bekannter, als Engels, ist Karl Marx. Auch er stammt aus dem Rheinlande, er ist als Sohn eines höheren preußischen Beamten in Trier geboren. Eben in das siebente Jahrzehnt seines Lebens tretend, vermag er schon aus fast vier Jahrzehnte politischer und publicistischer Arbeit in Deutschland und Frankreich, Belgien und England zurückzublicken Eine seltene Folgerichtigkeit der Weltanschauung zeichnet ihn aus; in vielfacher Beziehung darf er als der größte Revolutionär des neunzehnten Jahrhunderts gelten. Ein genialer, tiefsinniger, ursprünglicher Dealer und zugleich ein eitler, niedriger, zänkischer Demagoge – in der Geschichte findet sich keine zweite Gestalt, die so grelle Widersprüche zu einer in sich so vollkommenen Individualität zu verschmelzen gewußt hat, wie Marx.

      „Er ist der Erste und Einzige unter uns Allen,“ schreibt ein schwärmerischer Anhänger der revolutionären Partei, „dem ich das Zeug zutraue, zu herrschen, das Zeug, auch unter großen Verhältnissen sich nicht in’s Kleine zu verlieren. Ich bedaure um unseres Zieles willen, daß dieser Mensch nicht neben seinem eminenten Geiste ein edles Herz zur Verfügung zu stellen hat. Aber ich habe die Ueberzeugung, daß der gefährlichste persönliche Ehrgeiz in ihm alles Gute zerfressen hat. Er lacht über die Narren, die ihm seinen Proletarierkatechismus nachbeten, so gut wie über die Bourgeois. Die einzigen, die er achtet, sind ihm die Aristokraten, die reinen, und die es mit Bewußtsein sind. Um sie von der Herrschaft zu verdrängen, braucht er eine Kraft, die er allein in den Proletariern findet. Deshalb hat er sein System auf sie zugeschnitten. Trotz aller seiner Versicherungen vom Gegentheil, habe ich den Eindruck mitgenommen, daß seine persönliche Herrschaft der Zweck all seines Treibens ist.“

      So schrieb der preußische Exlieutenant von Techow vor nunmehr dreißig Jahren; seitdem ist seine Schilderung im Guten und Schlimmen so oft von kundigen Urteilen bestätigt worden, daß sie typischen Werth gewonnen hat.

      Es würde hier zu weit führen, die lange Reihe der Aufsätze und Schriften aufzuzählen, in denen Marx seine Gedanken entwickelt hat. Je nach den Bedürfnisse der politische Lage hat er sie in deutscher, englischer oder französischer Sprache veröffentlich. Ihr gipfelnder Höhepunkt ist bekanntlich „Das Capital“, jenes große Werk, dessen Namen Millionen und dessen Inhalt kaum Tausende kennen. Bei ihrer streng geschlossenen Logik läßt sich der innerste Kern der Lebens- und Weltauffassung von Marx mit wenigen Sätzen darlegen. Seine geschichtlichen und wirtschaftlichen Forschungen führen ihn zu dem Ergebnisse, daß die jedesmaligen materiellen, d. h. rein grobsinnlichen Bedingungen, unter denen die menschliche Gesellschaft zu einer gegebenen Zeit ihren Lebensunterhalt erwirbt und austauscht, die bewegenden Kräfte der Weltgeschichte sind. Alle bisherige Geschichte ist für ihn nichts anderes, als die Geschichte von Classenkämpfen. Diese einander bekämpfenden Classen der Gesellschaft sind jedesmal Erzeugnisse der Erwerbs- und Verkehrsverhältnisse, mit einem Worte, der wirtschaftlichen Verhältnisse ihres Zeitalters. Die jedesmalige wirthschaftliche Verfassung der Gesellschaft ist die tatsächliche Grundlage, aus welcher sich der gesammte Ueberbau der politische und rechtliche Einrichtungen, der philosophischen und religiösen Anschauungen eines Volkes und einer Zeit an letzten Grunde ableiten läßt. Dies ist die allgemeine Geschichtsanschauung von Marx, deren grob materialistische Tendenz er durch seinen talmudistischen Scharfsinn und sein unvergleichliches Wissen in allen Einzelnheiten mit zäher Ausdauer zu begründen versucht hat und noch versucht.

      Auf unser Jahrhundert angewandt, führt ihn diese Theorie zur Lehre von der gänzlichen Verwerflichkeit der heutigen Gesellschafts- und Staatsordnung. Die wirthschaftliche Grundlage der modernen Culturstaaten ist unstreitig das Sondereigenthum, welches seit 1789 eine noch weil schärfere Ausbildung erlangt hat, als es jemals früher hatte. Dieses Sondereigenthum ist aber nach Marx nichts anderes, als ein dauernder Raub der besitzenden an den arbeitenden Classen. Mit den älteren englischen Volkswirten erkennt er in der Arbeit die alleinige Quelle aller Werthe; der Unterschied zwischen ihrem Lohne und dem Preise ihres Erzeugnisses ist die Aneignung unbezahlter Arbeit seitens der Unternehmer, die Ausbeutung der Arbeiter, welche allein die in den Händen der besitzenden Classen sich häufende Werthsumme schafft. Darnach ist das Sondereigenthum die Grundlage der Knechtschaft in jeder Form, des socialen Elends, der geistigen Herabwürdigung, der politischen Abhängigkeit. Das einzige Mittel, die gesittete Menschheit noch vor heillosem Verfalle zu erretten, ist seine gänzliche Beseitigung, das will sagen, die Durchführung des Gemeineigentums an allen Arbeitswerkzeugen, großen wie kleinen, von dem Grund und Boden der Erdoberfläche an bis herab zur letzten Schlosserfeile.

      Nun aber würde diese Erkenntniß – immer nach Marx selbst – an und für sich äußerst unfruchtbar sein. Ergäbe sie sich rein aus Forderungen der Vernunft, und fände sie noch so lebhaften Anklang, so würde sie doch kein Brett und keinen Stein in der bestehenden Eigenthumsordnung verrücken, denn nicht was nach geistiger Erkenntniß sein soll, sondern was in wirtschaftlichen Dingen ist, entscheidet über die Geschicke der Welt. Soll also das Gemeineigentum jemals die wirthschaftliche Grundform des Völkerlebens werden. so ist das Ziel nur dadurch zu erreichen, daß es sich von selbst aus dem Sondereigenthum entwickelt. Und diesen Nachweis sucht denn auch Marx zu führen, wiederum mit großem Aufwande mühsamen Scharfsinnes. Er stellt die gegenwärtige Wirthschaftsform als Vorschule einer communistische Epoche dar, indem er voraussetzt, daß unter der Herrschaft des freie Wettbewerbes der große allmählich den kleinen Besitz aufsaugen, nach und nach alles Eigenthum sich in den Händen einer verhältnißmäßig geringe Anzahl von Personen sammeln wird. In diesen großen Unternehmungen würden dann aber die Arbeiter so an das Gefühl der Gleichheit, an das Zusammenarbeiten gewöhnt werden, sie würden so viel Geschäftskenntniß erlangen, daß, wenn einmal die Entwickelung des Sondereigenthums dazu geführt hat, daß eine ungeheuere Mehrzahl von Besitzlosen einer winzigen Minderheit von Besitzenden gegenüber steht, alsdann auch kinderleicht die „capitalistische Spitze“ abgestoßen, die „Enteigner enteignet“, kurzum die capitalistischen Unternehmungen in communistische verwandelt werden können.

      Für die praktisch-politische Propaganda solcher Anschauungen erblickten Engels und Marx in dem „Bunde der Communisten“ ein Gebilde, das nur einer verbessernden Umgestaltung bedurfte, um ein wirksames Werkzeug zu werden. Es galt, seine communistischen und internationalen Tendenzen klarer und schärfer zu gestalten, sein geheimes Verschwörertreiben durch eine aussichtsvollere Taktik zu ersetzen. Diese Taktik wieder ergab sich ganz von selbst aus einer Theorie, deren Endziel der auf das Gemeineigenthum gegründete Zukunftsstaat ist. Denn, angenommen, die alleinige Quelle alles menschlichen Elends sei das Sondereigenthum. auf dem sich doch gegenwärtig die wirthschaftliche Verfassung aller modernen Culturvölker aufbaut, so kann sie offenbar niemals durch einzelne noch so glückliche Attentate und Putsche in einzelnen noch so mächtigen Staaten beseitigt werden. Vielmehr handelt es sich dann um einen allgemeinen, unterschiedslosen Angriff der Besitzlosen gegen die Besitzenden, um einen Kampf also, der nur durch eine mit allen Mitteln öffentlichen Wirkens betriebene. über alle Länder und Völker sich erstreckende Agitation geführt und nur in der gewaltsamen Enteignung der besitzenden Classen, in der allgemeinen Herstellung des Gemeineigentums ende könnte.

      Nach diesen Gesichtspunkten wälzten Engels und Marx den „Bund der Communisten“ allmählich um. Die geheime Verschwörergesellschaft verwandelte sich in eine einfache Organisation der communistischen Propaganda. Sie bestand überall, wo deutsche Arbeitervereine bestanden; fast in allen diese Vereinen Englands, Frankreichs, Belgiens und in sehr vielen Vereinen Deutschlands waren die leitenden Mitglieder Bundesangehörige. Daneben aber suchte der Bund zuerst den internationalen Charakter der gesammte Arbeiterbewegung scharf zu betonen; Engländer, Belgier, Polen, Ungarn marschirten in seinen Reihen; namentlich zu London hielt er internationale Arbeiterversammlungen. Aus einem dieser Congresse