Das hinderte ihn natürlich nicht, öffentlich den „geschlossenen Geist strengster Einheit und Disziplin“ zu preisen, der den Verein zu einer „ganz neuen Erscheinung in der Geschichte“ mache. Mit gleicher Mißachtung der Wahrheit pflegte er über die Höhe der Mitgliederzahl sich auszulassen; aus seinen vertrauten Briefen ist dagegen wohl erkennbar, wie scharf er die Achillesferse des Vereins erkannte. Er wurde nicht müde zu schreiben: „Wir können nur durch große Massen marschiren. Wenn wir nicht spätestens nach Ablauf eines Jahres große Zahlen auslegen können, sind wir ganz ohnmächtig.“ Er hat niemals große Zahlen auflegen können; bei seinem Tode mochte er drei- bis viertausend Anhänger zählen, eine Ziffer von lächerlicher Geringfügigkeit gegenüber den Hunderttausenden, mit denen er in seinen begehrlichen Träumen rechnete.
Die geringe Unterstützung der Arbeiter selbst machte die Werbung gebildeter Anhänger für Lassalle nach wie vor zu einem „Ziel, auf’s Innigste zu wünschen“. Aber auch hier kämpfte er wesentlich einen vergeblichen Kampf. Die theoretische Halbheit seiner Agitation trennte ihn gleich anfangs von Engels und Marx; vollends seitdem er seine neue Taktik begonnen hatte, folgten diese eingefleischten Revolutionäre von ihrem englischen Exile aus seinen Wegen nur mit misstrauischen Blicken; wo er selbst die alten Genossen erwähnt, hört man aus seinen Worten das böse Gewissen reden. Von seinen Freunden in Deutschland theilten Bucher und Rodbertus seine Ansicht über die falschen Wege, welche die Fortschrittspartei auf dem Gebiete der Arbeiterfrage eingeschlagen hatte, aber nicht minder entschieden verwarfen sie sein Vorgehen, und vergebens bemühte er sich, sie mit sich fortzureißen. Auch der alte Ziegler sagte sich schweren Herzens von dem bewunderten Freunde los. Herwegh blieb ihm zwar treu, aber er that nichts für ihn, als daß er das Bundeslied des Vereins dichtete. Wenig sangbar, wurde dieses Gedicht noch dazu von Hans von Bülow in den dunklen und schweren Weisen der Zukunftsmusik componirt, sodaß es niemals populär war und fast ganz unbekannt geblieben ist. Deshalb mögen hier wenigstens die Anfangs- und Schlußstrophen einen Platz finden:
Bet’ und arbeit’! ruft die Welt,
Bete kurz! denn Zeit ist Geld.
An die Thüre pocht die Noth –
Bete kurz! denn Zeit ist Brod.
und du ackerst und du säst,
Und du nietest und du nähst,
Und du hämmerst und du spinnst –
Sag’, o Volk, was Du gewinnst?
– – – – – – – – – – – – – – –
– – – – – – – – – – – – – – –
Mann der Arbeit, aufgewacht!
Und erkenne deine Macht!
Alle Räder stehen still,
Wenn dein starker Arm es will.
Deiner Dränger Schaar erblaßt,
Wenn du, müde deiner Last,
In die Ecke lehnst den Pflug,
Wenn du rufst: Es ist genug!
Brecht das Doppeljoch entzwei!
Brecht die Noth der Sclaverei!
Brecht die Sclaverei der Noth!
Brod ist Freiheit, Freiheit Brod!
Wenn darnach Lassalle viel alte Freunde aus den gebildeten Schichte durch seine Agitation verlor, so gewann sie ihm wenig neue aus de gleichen Kreisen. Einiges junge Volk schloß sich ihm flüchtig an, ein Advocat, ein oder zwei Aerzte, ein Buchhändler, ein Candidat, auch ein baierischer Exlieutenant, aber von politischem Werthe waren diese vergänglichen und meist nur durch persönliche Bewunderung geschlossenen Verbindungen nicht. Nur aus zwei seiner Anhänger durfte er mit einiger Genugthuung als auf Demagoge blicken, die seiner agitatorische Kraft nicht völlig unwürdig waren, aus Liebknecht und Schweitzer, aber sein Unstern wollte, daß auch sie ihm keine werthvollen Stützen wurde. Schweitzer war ein begabter und thatkräftiger Mann, aber bekannt als Wüstling, der nur zu reichlich alle Genüsse des menschlichen Lebens erschöpft hatte: so betrachtete ihn gerade die besseren Mitglieder des Vereins mit unverhohlenem Widerwillen, und Lassalle mußte sein ganzes Ansehen einsetzen, um seine Aufnahme überhaupt bewerkstelligen zu können. Liebknecht wieder war persönlich ein unantastbarer Charakter, aber politisch ein fanatischer Republikaner aus der Schule von Engels und Marx; er gewann zu Lassalle und Lassalle wieder zu ihm kein rechtes Vertrauen.
Bei solcher Bewandtniß der Dinge mußte Lassalle die geistige Kosten seiner Agitation so gut wie ganz allein bestreiten, und er hat diese Aufgabe in geradezu einziger Weise gelöst. Vor dem anderthalb Dutzend mehr oder minder umfangreicher Schriften, die er in anderthalb Jahren mitten in den ungeheuren Anstrengungen und Aufregungen seiner Agitation geschrieben hat, kann ein unbefangener Urtheiler nur mit staunender Bewunderung stehen. In unserer nationalen Literatur haben diese glühenden Ergüsse einer Beredsamkeit, welche aus den schwersten und verworrensten Fragen der Wissenschaft blitzende Waffen auch für die ungefüge Faust der unwissenden Masse zu schmieden weiß, kaum ein Vor- oder auch nur ein Nachbild. In ihrem großartigen Wurfe stehen sie einzig da, ein Denkmal, nicht aus reinem und volltönendem Erze, vielmehr in wunderbarer Mischung aus Gold und Schlacken gegossen, aber strahlend von dem bestrickenden Glanze einer gewaltigen Geisteskraft. Wer diese Schriften liest, wird oft von aufrichtigem Abscheu ergriffen werden angesichts der wüthenden Schmähungen, mit denen sie verdiente Männer, wie beispielsweise einen Schulze-Delitzsch, überschütten, aber durch diese trüben Sümpfe windet sich der Gedankenpfad dann wieder in so kühnem Schwunge zu den lichten Höhen der Wissenschaft empor, daß der Widerwille immer wieder in der Seele des Lesers erlischt vor athemloser Spannung. Trotz alledem und alledem weht ein Hauch unsterblichen Schaffens durch diese Blätter; ein nicht geringer Theil ihres Inhalts ist schon heute ein bleibender Gewinn der Socialwissenschaft geworden.
Im Frühjahre von 1864 konnte Lassalle auf einen Winter zurückblicken, den er ganz und von seiner Sache gewidmet hatte; mit größerem Rechte, als im Vorjahre, durfte er seiner Reiselust nachgeben. In den rheinischen Gemeinden gedachte er zunächst das Stiftungsfest des Vereins zu feiern, die Triumphe des vergangenen Herbstes zu erneuern, eine neue Heerschau über die erlesene Garde seiner Anhänger zu halten. Und als er nun in Düsseldorf, Ronsdorf, Wermelskirchen erschien, da war es, als wollte ein barmherziges Schicksal ihm wenigstens einen tiefen Trunk aus dem Taumelkelche gönnen, nach dem seine Lippen in den aufreibenden Sorgen des Winters fast verdurstet waren.
Er war gekommen, abgespannt, übermüdet, auch körperlich krank; seine Aerzte gaben ihm nur noch eine kurze Lebensfrist. Todesgedanken quälten ihn; als er die Arbeiter in Düsseldorf um sich versammelte, sagte er von düsterer Ahnung: „Im nächsten Jahre werdet Ihr diesen Saal schwarz ausschlagen,“ und gleich melancholisch schloß die Rede, welche er auf dieser Rundreise in den einzelnen Gemeinden hielt, mit den Worten„Exoriare aliquis nostris ex ossibus ultor!“
(Möge ein Rächer aus unsern Gebeinen erstehen!) Aber als nun zu dem eigentlichen Stiftungsfeste in Ronsdorf die Arbeiter der Umgegend in dichten Schaaren herbeiströmten , als sich Tausende und aber Tausende um ihn drängten mit jubelndem Zurufe, ihn unter Blumen erstickten und ihn priesen als ihren Heiland und Retter, da schnellte seine Seele mächtig empor aus der Tiefe der Verzagniß, und wieder leuchtenden Auges blickte er in die dunklen Schatten der Zukunft. „So,“ rief er triumphirend aus, „sehe es aus bei der Stiftung neuer Religionen,“ und als die Arbeiter ihn besangen:
„Wir grüßen Dich, Herr Präsident,
In unserm Deutsch-Verein,
Denn Dir gebührt die Ehre
Zu unserm Groß-Verein;
Und wenn wir nun gesieget,
Dann wollen wir uns freu’n,
Du bist uns hoch erkoren
In diesem Deutsch-Verein!“
da rühmt er freudig dies Lied „in seiner tiefen Innigkeit und Naivetät“ und brachte es glücklich fertig zu schreiben „Wer sich