Die Protestantin. Gina Mayer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gina Mayer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783943121599
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von einer solchen schon erwarten. Nun, was bleibt mir übrig.« Die alte Dame verzog den Mund, als habe sie auf etwas Saures gebissen. »Hier, nimm den vereinbarten Lohn. Weniger zwei Groschen, die ziehe ich ab, weil die Ausführung gar so abscheulich ist. Und sag deiner Mutter, dass ich keineswegs zufrieden bin.«

      Johanne stopfte das Geld in die Schürzentasche. Die Umrisse der Rittmeisterin verschwammen in den Tränen, die ihr in die Augen getreten waren. Sie wandte sich ab, sie rannte fast zur Tür. »Ohne einen Gruß machst du dich davon, du gottloses Mädchen?«, rief ihr die Köchin nach. »Verabschiede dich, wie es der Anstand gebietet.«

      Aber Johanne brachte keinen Laut heraus und hatte auch keine Worte.

      Oben am Markt stand der Leierkastenmann und drehte und drehte mit blaugefrorenen Fingern. Gottloses Mädchen, orgelte sein Kasten. Gottloses Mädchen. Sie beschleunigte ihre Schritte, stolperte und wäre fast gefallen.

      Ich hasse diese Stadt. Der Gedanke ballte sich vor ihr zusammen wie ihr Atem.

      Dieses gottverdammte Kaiserswerth.

      Sie gehörte nicht hierher. Keine Katholikin. Keine Bürgerstochter. Keine von hier.

      Vor drei Jahren hatte Onkel Arnold sie mit dem Pferdewagen aus Krefeld hergebracht, die Eltern hatten auf dem Bock gesessen und Johanne mit Laurenz, Heiner und Theodor hinten. Der Wagen voller Gepäck. Koffer, Hausrat. Voller Erwartungen. Es war Sommer, aber die Luft war kühl und es nieselte. Sie fuhren in die graue, nasse Stadt ein, über den Marktplatz an den alten Häusern vorbei, die eine geschlossene Front bildeten, die sie aus schwarzen Fensteraugen anstarrten. Es war ein Zeichen, doch damals verstand sie es noch nicht.

      Ihre Wohnung in der Kirchstraße, drei Zimmer und eine große Küche und eine gute Stube mit einem kleinen Austritt, auf den die Mutter Töpfe mit Geranien stellte. Ein Palast. »Ein Palast für Könige«, lachte der Vater und legte den Arm um die Mutter, deren Wangen glühten, deren Augen leuchteten. Damals.

      Am nächsten Tag gingen Heiner und Theodor in die evangelische Schule und Vater und Laurenz zu ihrer neuen Arbeit in die Seidenfabrik. Und Johanne und ihre Mutter putzten die Böden und Fenster. Sie waren voller Hoffnung und die Hoffnung hing an einem seidenen Faden und der Faden riss. Seitdem fielen sie.

      Aber jetzt gab es einen neuen Pfarrer, der sogar zu ihnen nach Hause kam, obwohl sie nicht im Gottesdienst gewesen waren. Na und, dachte Johanne, er war auch nur ein Mensch, und Albertine hatte recht, nach ein paar Monaten wäre auch er wieder auf und davon.

      Eine Schneedecke versteckte die schwarzen Schieferdächer und den Dreck auf den Straßen. Eiszapfen glitzerten an den Regenrinnen und wurden mit jedem Tag länger. Sogar der Rhein trug eine Eishaut, nur in der Mitte blieb eine Fahrrinne für die Schiffe frei. Die Stadt sah aus, als habe man sie aus einem Bilderbuch ausgeschnitten.

      Die Schornsteine der Bürgerhäuser bliesen unablässig dicke Rauchwolken in den blauen Himmel. Aber in den Häusern hinter dem Dom und am unteren Ende der Kuhstraße, wo die Königs wohnten, fehlte das Geld für Brennholz oder Kohle. In der Nacht fror das Wasser in den Waschschüsseln, und wenn Johanne morgens aufwachte, war ihre Bettdecke von einer dünnen Eisschicht überzogen.

      Die Kinder liefen auf dem Kittelbach Schlittschuh oder rodelten den Damm zum Rhein hinunter. Im letzten Jahr war Johanne auch noch eisgelaufen. Aber jetzt war sie siebzehn, zu alt zum Schlittschuhlaufen. »Mach dich nützlich«, sagte ihre Mutter.

      Beim Metzger Schlader war frisch geschlachtet worden. Die Hausfrauen und Dienstmädchen, die frische Blutwurst und Mett kaufen wollten, reihten sich bis hinaus auf die Kuhstraße. Johanne sog den Geruch gierig auf. Im Fenster hingen kopfüber bleiche Hühnerleichen, die Brüste kahl gerupft, die Hälse und Köpfe blutrot. Darunter stapelten sich die Würste. Weiter, nichts wie weg. Für Fleisch war schon lange kein Geld mehr da.

      Eisiger Wind blies vom Rhein her über den Marktplatz. Die alten Bürgerhäuser mit ihren hohen, geschwungenen Giebeln schienen sich noch enger aneinander zu drücken als sonst, als versuchten sie sich gegenseitig zu wärmen.

      »Kohl und ein paar Zwiebeln«, sagte Johanne zu der Marktfrau an einem der Stände.

      »Kannst du diesmal zahlen? Ich gebe nichts mehr auf Kredit.« Hellblonde Strähnen kräuselten sich unter dem Kopftuch der Frau hervor, zitterten vor Kälte. »Den ganzen Winter lässt deine Mutter schon bei mir anschreiben. Und jedes Mal schwört sie mir beim lieben Herrgott, dass das Geld gewiss in der nächsten Woche käme. Aber von wem es kommen soll, das weiß auch der Allmächtige nicht.«

      Die anderen Marktfrauen blickten herüber, kicherten, nickten, verdrehten die Augen. Hinter Johanne wurde getuschelt.

      Die Bauersfrau seufzte. »Du kannst ja nichts dafür, Johanne. Ihr Kinder habt, weiß Gott, genug zu leiden unter euren Alten.«

      Ihre bläulichen Finger in den Handschuhen, an denen die Spitzen fehlten, griffen nach einem Kohlkopf und stecken ihn in Johannes Korb. Nach kurzem Zögern legte sie auch noch eine Handvoll Zwiebeln dazu.

      »Das Gemüse ist verschenkt, Hanne«, keifte die Frau vom Nachbarstand. »Das Geld siehst du niemals wieder.«

      »Kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten!«

      »Vergelt´s Ihnen Gott«, flüsterte Johanne. »Wir bringen das Geld. Ganz gewiss bekommen Sie Ihr Geld.«

      »Lass gut sein, Johanne.« Die Marktfrau schob die Hände tief in ihre Schürzentasche. »Und jetzt lauf nach Hause und sag deinem Alten … Ach, sag ihm lieber nichts, sonst wendet es sich am Ende noch gegen dich.«

      Auf ihrem Heimweg begann es zu schneien. Die Flocken setzten sich auf das Gemüse in ihrem Korb, flogen auf ihr Haar und in ihr Gesicht wie Mücken. Am Anfang wischte sie sie noch weg, aber dann zog sie das Kopftuch tiefer ins Gesicht und ging schneller.

      Sie war schon fast zu Hause, als sie ihren Namen hörte. Sie blickte sich suchend um.

      »Hier bin ich, hier drüben!« Eine helle Mädchenstimme von der anderen Straßenseite.

      »Nelli!« Johanne eilte auf die kleine Gestalt zu, die in einem Hauseingang Schutz vor Wind und Schnee gesucht hatte. »Was machst du denn hier draußen bei dieser Eiseskälte?«

      Cornelia Färber. Nelli. Ihre beste Freundin. Ihre einzige Freundin. Nelli war niedlich und fröhlich und so hübsch, dass ihr die Kaiserswerther sogar nachsahen, dass sie evangelisch war und zugezogen wie Johanne.

      »Ach, wenn keine Kohle im Haus ist, ist es drinnen auch nicht viel wärmer als auf der Straße. Außerdem hab ich gerade die Kleinen an den Kittelbach gebracht. Ich habe nachgesehen, ob das Eis schon trägt. Oh Johanne, am liebsten würde ich selbst wieder Schlittschuhe anziehen!»

      »Sei still! Mutter sagt, ich darf nicht mehr mitmachen. Ich bin zu alt dafür!«

      »Meine auch. Ich bin zu alt, um auf dem Eis meinen Spaß zu haben. Aber zum Tanzen will sie mich auch nicht lassen. Dafür war ich im Sommer wiederum zu jung. Sie dreht und wendet alles, wie es ihr passt.«

      »Und deshalb stehst du nun hier und frierst?«

      »Ich wollte eben nach oben gehen. Gibt es etwas Neues?«

      »Eigentlich nicht.« Johanne hatte keine Lust, von ihrer Begegnung mit der Marktfrau zu erzählen. In Nellis Familie standen die Dinge nicht viel besser, auch ihr Vater hatte seine Arbeit in der Seidenfabrik verloren, und die Mutter und der ältere Bruder hielten die Familie mit Mühe und Not über Wasser.

      »Der neue Pastor, der Fliedner, war der am Sonntag auch bei euch?«, erkundigte sich Nelli. Im Schutz des Hauseingangs ließ sie das graue Wolltuch, das sie um den Kopf geschlungen hatte, auf die Schultern gleiten. Ihr rotblondes Haar strahlte Johanne an.

      »Bei euch etwa auch?« Der Gedanke versetzte ihr einen leichten Stich. Dass der neue Pastor auch bei den Färbers gewesen war. Dass er jede evangelische Familie aufgesucht hatte. »Wir sind nicht einmal zum Gottesdienst gegangen, und dennoch hat er uns besucht.«

      »Mein Vater