Die Protestantin. Gina Mayer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gina Mayer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783943121599
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einen damit ansieht, geht es einem durch und durch. Gerade so, als ob er all deine sündigen Gedanken lesen wollte.«

      »Nelli! Was redest du denn da! Ich fand ihn sehr freundlich. Und ich werde …«

      »… ganz gewiss am nächsten Sonntag zur Kirche gehen.« Wenn Nelli lachte, erschienen niedliche Grübchen auf ihren Wangen. »Genau wie alle anderen Gemeindemitglieder. So ein Hausbesuch zeigt immer die gewünschte Wirkung. Wie alt mag er wohl sein? Zwanzig? Nun, es spielt ja doch keine Rolle.«

      »Was willst du damit sagen?«

      »Er wird ja doch nicht lange bleiben.« Nelli stellte sich auf die Zehenspitzen, reckte ihren Mund zu Johannes Ohr und senkte verschwörerisch die Stimme. »Wir wissen es aus sicherer Quelle. Von der alten Frau Kalender, die hat es Mutter erzählt, als sie gemeinsam die Wäsche gemacht haben. Die Gemeinde ist bankrott. Die Kirche, die Schule, alles wurde gegen Schulden gebaut. Und jetzt wollen die Gläubiger ihr Geld zurück.«

      »Aber was wollen sie denn unternehmen? Sie können die Kirche doch nicht abreißen!«

      »Natürlich nicht, Dummchen. Aber sie werden das Gehalt des Pastors einfordern. Als Schuldzins. Dann muss Fliedner sich eine andere Pfarrei suchen.«

      »Aber was verdient schon ein Pastor? Das kann doch nicht genug sein.«

      »Es ist ein Anfang.« Nelli zuckte mit den Schultern. »Sagt jedenfalls Frau Kalender. Nun reg dich nicht auf. Noch ist dein Fliedner ja da.«

      »Mein Fliedner?« Johanne warf den Kopf in den Nacken. Wenn sie aufrecht stand, war sie einen halben Kopf größer als Nelli. Ihr war kalt, stellte sie fest, und sie musste nach Hause, die Mutter wartete auf die Einkäufe. Sie packte ihren Korb und wandte sich zum Gehen. »Ich muss los, Nelli. Wir sehen uns …«

      »… spätestens sonntags in der Kirche«, beendete Nelli ihren Satz und lachte.

      Beim sechsten Schlag der Turmuhr schob Johanne ihre Beine über den Bettrand. In der Dunkelheit angelte sie ihr Kleid und die karierte Schürze vom Haken und zog sich leise an. Im anderen Bett schliefen die beiden Brüder.

      In der Küche zündete sie die Öllampe über dem Esstisch an. In dem flackernden Licht wirkte der Raum noch finsterer als sonst. Wände dunkel vor Ofenruß, die viel zu lange nicht mehr gekälkt worden waren. Vor dem Herd eine Schicht Kohlenstaub, als habe jemand den Boden streichen wollen und dann die Lust verloren. Das Tuch vor dem Fenster war einmal weiß gewesen, jetzt war es grau und schwer von Staub und Fett.

      Sie hausten im Dreck wie die Ratten. Aber damit war jetzt Schluss, dachte Johanne. Sie schaufelte ein paar Kohlen in den Herd, schichtete Holz darauf und zündete es an. Attackierte das Ganze mit dem Blasebalg, dass die Flammen hell und wütend aufloderten.

      Schnell, dachte sie, in kurzer Zeit würde der Rest der Familie aufwachen. Bis dahin musste die schlimmste Unordnung beseitigt sein. Sie fegte die Eier- und Zwiebelschalen zusammen, die ihre Mutter auf die Asche neben dem Herd geworfen hatte. Eine paar Kakerlaken huschten unter ihrem Besen hervor, hasteten über den Boden und verschwanden in den Ritzen der Holzdielen.

      Johanne warf den Unrat in den Ofen und nahm sich die Fettschicht auf dem Herd vor. Tränkte einen Lappen mit Seifenlauge, kratzte, scheuerte und rieb. Der fettige Ruß kroch unter ihre Fingernägel, fraß sich in die winzigen Fältchen und Risse in ihren Händen. Unter ihren Armen bildeten sich nasse Flecke, die rasch größer wurden. Sie wurde immer schmutziger, aber der Raum blieb, wie er war. Dreckig. Der Schmutz saß zu fest, zu lange an seinem Platz.

      Die Fenster, dachte Johanne. Sie würde sie putzen, dann konnte die Sonne hereinscheinen und alles sähe gleich viel besser aus. Sie wusch den Lappen im Eimer, wrang ihn gründlich aus, aber als sie damit über die Scheiben wischte, überzog sich alles mit einer gräulichen Aschenschicht.

      Wütend schleuderte sie den Feudel zurück in den Eimer. Das Wasser spritzte nach allen Seiten. Ihr war zum Heulen zumute, aber Heulen brachte nichts. Genau wie das Putzen.

      Sie schüttete das dreckige Wasser in die Gosse. Füllte die Waschschüssel und schrubbte ihre Hände, bis sie rot und wund waren. Nachdem sie sich umgezogen hatte, weckte sie die Brüder. »Beeilt euch, zieht euch an und esst noch etwas Grütze. In einer halben Stunde beginnt der Gottesdienst.«

      »Der Gottesdienst?«, maulte Heiner. »Aber da mussten wir doch sonst nicht hin. Wir wollen lieber an den Rhein, wer weiß, wie lange das Eis noch da ist.«

      »Sei still! Weißt du nicht, was der Pastor letzte Woche gesagt hat? Wenigstens wir Kinder sollen zur Kirche gehen, wenn schon Mutter und Vater nicht kommen.«

      »Was für ein Radau in aller Herrgottsfrühe!«

      Johanne fuhr zusammen. Ihre Mutter war unbemerkt ins Zimmer getreten. »Das Fräulein Tugendhaft will den Pfaffen beeindrucken!«, sagte sie jetzt spöttisch. »Das hätte ich mir doch gleich denken können, dass du nicht mir zuliebe die Küche aufräumst.« Ihr Blick glitt durch die Kammer und blieb neben dem Fenster hängen, wo der Putz von der Wand gebröckelt war und den Blick auf rohes, rötliches Mauerwerk freigab, wie bei einem Tier, dem man das Fell vom Fleisch gerissen hatte. »Mach dir keine Hoffnung«, sagte sie und ihre Stimme hatte plötzlich etwas Mitleidiges, fast Sanftes. »Es wird dir nicht gelingen. Ich habe es nicht geschafft, und du schaffst es auch nicht.«

      Für gewöhnlich ließ sich der Vater nicht am Frühstückstisch blicken. Meist blieb er in der Kammer, bis die anderen ihre Mahlzeit beendet hatten. Aber heute wälzte er sich aus dem Bett. Setzte sich in Unterhosen an den Tisch, unrasiert und schmutzig, und griff nach der Schüssel mit der Grütze.

      »Kein Kaffee. Selbst am Sonntag gibt es keinen Kaffee.»

      »Tu doch nicht so scheinheilig. Wer am Sonnabend das ganze Geld versäuft, muss sich nicht wundern, wenn am Sonntag nichts übrig ist!«, keifte seine Frau.

      Der Vater grunzte etwas Unverständliches. Aß schmatzend, erhob sich dann und wollte zurück in die Kammer.

      »Zieh deine Kleider an, König«, sagte seine Frau. »Deinen Rausch kannst du später ausschlafen. Jetzt wirst du deine Familie in die Kirche begleiten, wie sich das für einen ehrbaren Bürger gehört. Oder willst du, dass der neue Pastor wieder hier hereinschneit und uns eine Strafpredigt hält?«

      »Der neue Pastor kann mir den Buckel herunterrutschen, genau wie der alte auch.« König war schon an der Schlafzimmertür.

      Aber so leicht gab die Mutter nicht auf.

      »Du erbärmlicher Säufer, sollen sie denn alle auf uns herabsehen? Komm zurück, König!«

      Einen Moment verharrte der Vater bewegungslos, als könne er es nicht glauben, als habe er sich verhört. Dann drehte er sich um und stampfte zurück zum Tisch. Frau König stellte sich ihm entgegen.

      Johanne hielt den Atem an. Heiner und Theodor starrten die Eltern mit offenem Mund an.

      Groß und hager stand der Mann da, das Gesicht blutrot. Und hob schnaufend die Hand und ballte sie zur Faust. Die Mutter wich keinen Zoll. Seine Augen glitten von ihr zu den drei Kindern am Tisch, zurück zur Mutter.

      Langsam ließ er die Hand wieder sinken. Die Faust öffnete sich. Die Finger zitterten.

      »Lass mich in Frieden, Alte.« Die Wut in seinem Gesicht war einem Ausdruck der Ratlosigkeit gewichen. »Wenn du zur Kirche musst, um dein Gewissen zu erleichtern, so renn hin. Aber ich brauch deinen Gott nicht. Hat uns eh schon lang vergessen.«

      Mit einem kraftlosen Knall fiel die Schlafzimmertür hinter ihm ins Schloss. Die Mutter starrte immer noch auf die Stelle, an der er gestanden hatte. Dann drehte sie sich um und riss ihr Schultertuch vom Haken. Mitten in der Bewegung hielt sie wieder inne und fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn.

      »So weit ist es schon mit uns gekommen«, sagte sie. »Bald schlägt er mich noch tot, weil ich mein Mundwerk nicht halten kann. Wundern wird’s keinen.«

      Johanne griff nach ihrer Hand, sie wandte sich ab. »Worauf wartet ihr noch?«, herrschte sie die Kinder an. »Lauft, zieht die Schuhe an, sonst ist der Gottesdienst vorbei,