Die Protestantin. Gina Mayer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gina Mayer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783943121599
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den runden Hut hielt er vor der Brust in der Hand. Seine hellblauen Augen unter der hohen, weißen Stirn schienen alles zu durchdringen – den ganzen Raum und die Menschen darin, die ihn wie eine übernatürliche Erscheinung anstarrten.

      Heiner fasste sich als Erster. Er sprang von seinem Stuhl auf und machte eine ungeschickte Verbeugung. Stammelte einen Gruß.

      Der Fremde hob eine blasse Hand, wie um ihn zurückzuhalten. »Bleibt nur sitzen und nichts für ungut. Ich will keine Umstände machen. Ich möchte euch kennenlernen, nichts weiter.«

      Johanne und der kleine Theodor waren inzwischen ebenfalls aufgestanden. Johanne wollte den Fremden nicht anstarren, aber sie konnte den Blick nicht abwenden. Er sah seltsam aus, die Gesichtszüge scharf gezeichnet, die Nase stark gebogen, das rötliche Haar straff aus der Stirn gekämmt. Aber das Auffälligste an ihm waren seine Augen, sein alles erfassender, blassblauer Blick, der zuerst auf Theodor ruhte und dann auf ihr und dann durch die Stube wanderte. Sie folgte ihm und sah, was er sah. Die Dreckklumpen auf dem Fußboden. Die schmutzige Wäsche auf der Kommode. Die Kartoffelschalen neben dem Herd, die Stiefel des Vaters mitten im Raum, einer hier, der andere dort, so wie er sie von den Füßen gestreift hatte, als er betrunken nach Hause gekommen war.

      Das hatten sie davon, dass sie nicht zur Kirche gegangen waren, nun suchte sie der Pfarrer zu Hause auf und sah das Elend, sah die Schande.

      »Ich würde Ihnen gerne Kaffee anbieten«, sagte ihre Mutter. »Ist aber leider keiner da.«

      Fliedner hob abwehrend die Hand.

      »Wenn ich bei jedem Gemeindeglied eine Tasse Kaffee trinken wollte, dann läge ich nach meinem Rundgang im Spital. Nein, nein. Aber die Namen Ihrer Kinder, die würde ich gerne erfahren, bevor ich mich wieder auf den Weg mache.«

      »Ihr habt´s gehört, sagt dem Pastor, wie ihr heißt!«

      »Heinrich!« »Theodor!«, schrien die beiden Jüngsten. »Ich bin neun Jahre – nein, zehn!«, verbesserte sich Heiner hastig. »Und der Theodor …«

      »Das kann ich schon selber sagen.« Theodors Stimme war hell vor Erregung. »Sieben Jahre bin ich alt.«

      Der Pastor lächelte. »Und Theodor heißt du? So heiße ich auch. Dann geht ihr beiden wohl schon in die Schule?«

      »So sie denn stattfindet«, seufzte die Mutter. »Der Lehrer ist nur zu häufig krank.«

      »Es ist ein Jammer«, sagte der Pastor und dann richtete er seine durchdringenden Augen auf Johanne. »Sie haben mir Ihren Namen noch nicht verraten.«

      Sie sagte er, als ob sie eine Erwachsene wäre.

      »Johanne heiße ich. Und siebzehn Jahre bin ich alt.«

      Er wandte seinen Blick nicht von ihr ab. Sie fühlte sich wie aus Glas. »Siebzehn Jahre, sagen Sie? So sind Sie Ihrer Frau Mutter gewiss eine wichtige Stütze bei der Arbeit im Haus und mit den kleinen Geschwistern?«

      Johanne schaute nervös zu der Mutter und wartete nur darauf, dass diese widersprach, dass sie sich über ihre Nutzlosigkeit beklagte. Aber Frau König schwieg und der Pastor wartete auf eine Antwort.

      »Ich … äh … versuche mein Bestes, aber …« Ihre Stimme versagte. Sie schwitzte, sie schämte sich, sie wäre am liebsten weggelaufen. Aber als sie ihn ansah, fand sie keine Verachtung oder Ungeduld in seinem Gesicht. Er wirkte erwartungsvoll. Als habe sie ihm etwas Wichtiges zu sagen.

      Ein neuer Versuch. »Ich versuche meine Mutter zu unterstützen, soweit ich es vermag.«

      Der Pastor nickte, schnell und mehrmals hintereinander, als habe er genau diese und keine andere Antwort hören wollen. »Das ist gut so, Johanne.« Dann drehte er sich wieder Frau König zu. »So bleibt mir nur noch eins: Ich möchte Sie einladen, am nächsten Sonntag den Gottesdienst mit uns zu feiern.«

      Das runde Gesicht der Mutter verfärbte sich rot. »Wir wären schon auch heute gekommen, aber mein Mann ist leidend, und die viele Arbeit …«

      Der Pfarrer fiel ihr ins Wort. »Mit Verlaub, Frau König, für die Arbeit haben wir sechs Tage in der Woche. Am siebten Tag aber sollt ihr ruhen, so steht es in der Schrift. Und wenn Ihr kranker Mann der Pflege bedarf, so sollten Sie wenigstens Ihre Kinder zur Kirche schicken.« Seine Stimme war nicht mehr mild, sein Ton war schneidend.

      Er weiß alles, dachte Johanne, von der Trunksucht des Vaters, von Laurenz, er kennt unsere ganze erbärmliche Geschichte. Die Scham schnürte ihr die Kehle zu. Und verschlug auch ihrer Mutter und den Brüdern die Sprache. Der Fremde stand da, schwarz und ernst, die wasserblauen Augen blankes Eis. Endlich tat er einen Schritt auf Frau König zu und streckte ihr seine Hand hin.

      »Nun denn, so will ich mich wieder auf den Weg machen. Vielleicht habe ich in der nächsten Woche auch das Glück, Ihren Gemahl persönlich kennenzulernen.«

      Die Mutter brummelte etwas Unverständliches, drückte die Hand, ohne Fliedner anzusehen.

      Ein kühler Luftzug fuhr durch die Küche, als sie die Tür öffnete, um ihn hinauszulassen. Frischer Wind, dachte Johanne. Was er wohl mit sich bringt?

      Vor zwei Wochen hatte das neue Jahr begonnen. 1822. Mit einem Wäschekorb im Arm hastete Johanne die Kaiserswerther Kuhstraße entlang, in der sie wohnten, und versuchte dabei den Pfützen auszuweichen, die sich auf dem schadhaften Straßenpflaster gebildet hatten. Dreck, wohin man blickte, wohin man auch trat. Bis in Kniehöhe war ihr Rock steif von getrocknetem Schlamm. Sie hatte das Kleid am Morgen ausgebürstet, aber dadurch hatte sie den Schmutz nur verteilt.

      Johanne machte einen weiten Schritt über eine große Lache. Doch sie trat zu kurz und versank bis zu den Knöcheln im Schlamm. Als sie die Lehmklumpen von den Schuhen streifen wollte, beschmierte sie auch noch die schwarzen Strümpfe.

      Das Haus von Rittmeister Packenius lag oben am Markt in der Wallstraße, es war eingezwängt zwischen zwei andere Häuser, aber nach vorne hin verschaffte sich jedes Stockwerk Platz, indem es sich ein Stück weiter über die Straße lehnte. Johanne klopfte am Hintereingang. Die Köchin Marthe öffnete, trat wortlos einen Schritt zur Seite, ließ sie ein. Der Boden des Hausflurs war ein Schachbrett aus schwarzen und weißen Fliesen. Johanne trat immer nur auf die dunklen Flächen, um keine lehmigen Fußspuren zu hinterlassen.

      In der Küche verschränkte Marthe die Arme über der Brust und klemmte die Hände unter die Oberarme. Stand da und musterte Johanne und sagte nichts, während Johanne immer heißer wurde.

      »So spät«, sagte Marthe vorwurfsvoll. »Seit Weihnachten wartet die gnädige Frau auf die Stickarbeiten. Aber bei deinen Leuten muss man wohl froh sein, dass es nicht auch noch bis zum nächsten Jahr gedauert hat. Ich werde die Herrin holen, damit sie´s dir abnimmt.«

      Sie stapfte mit großen, feindseligen Schritten aus der Küche. Johanne starrte auf die Wäsche im Korb. Auf der Tischdecke, die obenauf lag, prangte ein hässlicher hellbrauner Schmutzfleck, der noch nicht da gewesen war, als sie zu Hause losgegangen war. Sie packte die Decke und schob sie nach unten. Die anderen Teile waren zwar sauber, aber sie sahen nicht viel besser aus. Die Hohlsäume waren schief und unsauber gearbeitet, an manchen Stellen spannte sich der Stoff unter zu festen Stichen, andere waren zu locker gezogen. So sehr sich ihre Mutter auch abmühte, ihr fehlte jegliches Geschick für Handarbeiten.

      Dabei musste sie mit der Näherei die ganze Familie ernähren, der Vater brachte keinen Groschen nach Hause und Laurenz ... Nicht an Laurenz denken. Johanne stellte den Korb auf den Tisch und kämpfte mit der Versuchung, aus der Küche zu schleichen. Aber im selben Moment kam die Köchin mit der alten Frau Packenius zurück.

      »Du liebe Güte, Kind, bist du auf dem Weg zu uns im Morast versunken?«, rief die Dame, deren sanfte Stimme in einem seltsamen Gegensatz zu ihrer strengen Miene stand. Sie holte mit spitzen Fingern einen Unterrock aus dem Korb. »Da ist ja nun endlich die Arbeit, die ich deiner Mutter aufgetragen habe. Man möchte meinen, ihr könntet die Groschen brauchen, aber eilig scheint sie es nicht gehabt zu haben. Und ordentlich kann man die Handarbeit auch nicht nennen.« Ihre ohnehin schon runzelige Haut verzog sich in zahllose missbilligende Falten.

      »Schade