»Verkehrt er dort?«
»Ja, sehr häufig. Und kennen Sie die neue Art, den Hof zu machen?« sagte Peter mit vergnügtem Lächeln.
»Nein«, erwiderte Marie teilnahmslos.
»Um den moskauischen Mädchen zu gefallen, muß man jetzt melancholisch sein. Er ist sehr melancholisch bei ihr.«
»Wirklich?« fragte Marie, immer mit dem Gedanken an ihren Kummer beschäftigt. »Es würde mir leichter werden«, dachte sie, »wenn ich jemand anvertrauen könnte, was ich fühle, und Besuchow könnte ich alles sagen, er ist so gutmütig und ehrlich; es würde mir leichter werden, und er könnte mir vielleicht raten.«
»Würden Sie ihn heiraten?« fragte Peter.
»Ach mein Gott, es gibt Augenblicke, wo ich jeden heiraten würde!« rief Fürstin Marie mit tränenvoller Stimme. »Ach, wie schwer ist es, einen Nahestehenden zu lieben und doch zu fühlen, daß man nichts für ihn tun kann, und daß man das nicht ändern kann. Dann bleibt nichts übrig als fortzugehen. Aber wohin sollte ich gehen?«
»Was ist Ihnen, Fürstin?«
»Ich weiß nicht, was mir heute ist«, sagte sie weinend. »Hören Sie nicht auf mich, vergessen Sie, was ich Ihnen gesagt habe.«
Alle Heiterkeit Peters war verschwunden. Teilnehmend bat er sie, ihm ihren Kummer anzuvertrauen. Aber sie bat ihn nur wiederholt, alles zu vergessen, was sie gesagt habe. Sie habe keinen Kummer außer dem, daß die Heirat ihres Bruders Vater und Sohn entzweien werde. »Ich habe gehört, Rostows werden bald hier sein, auch Andree erwarte ich jeden Tag. Ich wünschte, daß sie sich hier sehen würden!«
»Wie sieht der alte Fürst die Sache jetzt an?« fragte Peter.
Marie wiegte den Kopf.
»Was ist zu machen? In wenigen Monaten ist das Jahr abgelaufen. Ich wünschte, ich könnte meinem Bruder die ersten Augenblicke ersparen. Möchten sie doch bald kommen. Kennen Sie sie schon lange?« fragte Marie. »Sagen Sie mir die volle Wahrheit«, sagte sie, die Hand aufs Herz legend, »was ist sie für ein Mädchen? Aber die ganze Wahrheit, denn Sie wissen, Andree riskiert so viel, indem er dies gegen den Willen des Vaters tut, daß ich wissen möchte …«
Ein unbestimmtes Gefühl sagte Peter, daß in diesen Fragen und Bitten, die ganze Wahrheit zu sagen, sich Abneigung gegen Natalie verberge, und daß sie von ihm erwarte, er werde die Wahl ihres Bruders nicht gutheißen. Aber Peter sprach, wie er fühlte.
»Ich weiß nicht, wie ich diese Frage beantworten soll«, erwiderte er errötend, ohne zu wissen, warum. »Ich weiß entschieden nicht, was sie für ein Mädchen ist und kann sie nicht analysieren. Sie ist bezaubernd, aber warum, das weiß ich nicht, und das ist alles, was ich von ihr sagen kann.« Fürstin Marie seufzte, und ihre Miene sagte: »Ja, das habe ich erwartet und befürchtet.«
Peter dachte nach.
»Ich glaube nicht«, sagte er, »oder eigentlich doch! Sie hält nichts darauf, für klug zu gelten, doch nein, sie ist verführerisch und weiter nichts.«
Marie wiegte bedenklich wieder den Kopf.
»Ach, ich wünschte so sehr, sie lieben zu können, sagen Sie ihr das, wenn Sie sie früher sehen als ich.«
»Ich hörte, sie werden in einigen Tagen hier sein«, erwiderte Peter. Marie teilte ihm ihren Plan mit, wie sie sich, sobald Rostows ankommen, ihrer zukünftigen Schwägerin nähern und sich bemühen wolle, den alten Fürsten an sie zu gewöhnen.
115
Die Heirat mit einer reichen Erbin in Petersburg war Boris nicht gelungen und deshalb kam er in derselben Absicht nach Moskau. Hier schwankte er zwischen den beiden reichsten Mädchen, Julie Karagin und Fürstin Marie. Obgleich die Fürstin Marie, ungeachtet ihres unschönen Äußeren, ihm angenehmer erschien als Julie, vermochte er doch nicht, ihr den Hof zu machen. Bei seinem letzten Besuch am Namenstag des alten Fürsten waren alle seine Bemühungen, von Gefühlen mit ihr zu sprechen, vergeblich gewesen, sie hatte augenscheinlich nicht gehört, was er sagte. Julie dagegen nahm seine Aufmerksamkeiten gern an. Sie war siebenundzwanzig Jahre alt und sehr reich. Jetzt war sie vollkommen häßlich geworden, hielt sich aber nicht nur für schöner, sondern sogar für verführerischer, als sie früher war. In diesem Irrtum wurde sie dadurch bestärkt, daß sie erstens sehr reich geworden war, und zweitens dadurch, daß sie mit dem zunehmenden Alter ungefährlicher für die Männer wurde und diese sich unbefangen mit ihr unterhielten und ohne irgendeine Verpflichtung zu übernehmen, ihre Diners und Abendgesellschaften besuchen konnten. Mancher, welcher vor zehn Jahren sich gescheut hätte, jeden Tag ein Haus zu besuchen, in dem ein siebzehnjähriges Mädchen wohnte, um sie nicht zu komprimittieren und sich zu binden, kam jetzt unbefangen jeden Tag.
Eines der angenehmsten und gastfreundlichsten Häuser Moskaus war in diesem Winter das Haus Karagin. Außer zu den Galadiners und Gesellschaften sammelte sich auch jeden Tag hier eine große Gesellschaft, besonders von Herren, welche um zwölf Uhr nachts speisten und bis drei Uhr sitzenblieben. Julie versäumte keinen Ball, kein Theater, ihre Toiletten waren immer die modernsten. Aber dennoch schien sie blasiert, sagte jedem, sie glaube weder an Freundschaft, noch an Liebe, noch an irgendwelche Lebensfreude und erwarte Ruhe nur dort. Sie nahm den Ton eines Mädchens an, das große Enttäuschungen erfahren, das vielleicht einen Geliebten betrauerte oder grausam von ihm betrogen worden war. Obgleich nichts der Art ihr zugestoßen war, glaubte sie doch selbst, schon viel im Leben erduldet zu haben. Diese Melancholie, die sie nicht abhielt, zuweilen sehr heiter zu werden, war auch für die jungen Leute, welche das Haus besuchten, kein Hindernis, die Zeit angenehm zuzubringen. Jeder Gast erfüllte seine Pflicht gegen die melancholische Stimmung der Dame und überließ sich dann weltlichen Gesprächen, dem Tanze und geistreichen Spielen. Einige junge Leute, worunter auch Boris, vertieften sich mehr in den melancholischen Gemütszustand von Julie, und diesen öffnete sie nach längeren Gesprächen über die Eitelkeit alles Irdischen ihr Album, das mit trübsinnigen Gedanken und Gedichten gefüllt war.
Julie war besonders freundlich gegen Boris, beklagte seine frühzeitigen Enttäuschungen im Leben und bot ihm jene Tröstung der Freundschaft, die sie ihm bieten konnte, nachdem sie selbst im Leben so viel erlitten hatte, und öffnete ihm ihr Album. Boris zeichnete darin zwei Bäume und schrieb darunter: »Ländliche Bäume, eure düsteren Zweige überschatten mich mit Finsternis und Melancholie.«
Auf einer anderen Stelle zeichnete er ein Grab und schrieb darunter:
»Der Tod ist erlösend, der Tod ist still,
Ach, gegen die Schmerzen gibt es kein anderes Asyl!«
Julie sagte, das sei entzückend.
»Es liegt etwas unendlich Verführerisches im Lächeln der Melancholie«, sagte sie zu Boris. Sie hatte diese Stelle Wort für Wort in seinem Buch gelesen. Darauf schrieb Boris:
»Giftige Nahrung für eine empfindsame Seele,
Du, ohne die für mich das Glück unmöglich wäre,
Zarte Melancholie, komm und tröste mich!
Gebiete dem Sturm in meiner düstern Einsamkeit,
Und mische eine geheime Süßigkeit
Mit dieser Tränen Flüssigkeit.«
Julie spielte Boris auf der Harfe einige melancholische Notturnen vor. Boris las ihr vor, häufig unterbrochen von empfindsamer Aufregung. In größerer Gesellschaft sahen Boris und Julie einander an, wie die einzigen Menschen in der gleichgültigen Welt, welche einander begriffen.
Anna Michailowna war oft bei Karagins und spielte Karten mit der Mutter, wobei sie es verstand, sich darüber