Im Januar fuhr die Fürstin Marie nach Moskau, und der Graf bestand darauf, daß Natalie mit ihr fahren sollte, um sich mit den Ärzten in Moskau zu beraten.
245
Der 5. November war der erste Tag der Schlacht bei Krasnoje. Gegen Abend, als es nach vielen Streitigkeiten und Irrtümern der Generale, welche nicht dorthin führten, wo es bestimmt war, und nach vielem Umhersenden von Adjutanten mit widersprechenden Befehlen, schon klar wurde, daß der Feind überall floh und keine Schlacht stattfinden könne und werde, kam Kutusow aus Krasnoje herausgeritten nach Dobroje, wohin das Hauptquartier verlegt wurde. Es war ein heller Frosttag, als Kutusow in Begleitung einer großen Suite von Generalen, welche mißvergnügt unter sich über ihn flüsterten, nach Dobroje ritt. Am ganzen Weg drängten sich die französischen Gefangenen, etwa siebentausend; nicht weit von Dobroje stand eine lange Reihe von französischen Geschützen. Bei der Annäherung des Oberkommandierenden verstummte das Stimmengewirr der Gefangenen und Soldaten, und alle Augen richteten sich auf Kutusow, der mit seiner weißen Mütze und im wattierten Mantel langsam des Weges daherritt, während einer der Generale ihm über die genommenen Geschütze und die Gefangenen Meldung machte, Kutusow schien nicht auf den General zu hören und blickte beständig nach denjenigen Gefangenen, die ein besonders klägliches Aussehen hatten. Die meisten Gesichter der Franzosen waren durch erfrorene Nasen und Wangen entstellt und fast alle hatten rote, entzündete Augen. Zwei Soldaten zerrissen mit den Händen ein Stück rohes Fleisch. Es lag etwas Schreckliches, Tierisches in dem flüchtigen Blick, den sie auf die Vorüberreitenden warfen, und in dem wütenden Ausdruck, mit dem der eine Kutusow anblickte.
Kutusow sah lange aufmerksam nach diesen zwei Soldaten und wiegte gedankenvoll den Kopf. Vor dem Preobraschenskischen Regiment blieb er stehen und schloß die Augen. Ein Offizier der Suite winkte mit dem Arm, und die Soldaten, welche die Fahne hielten, traten hervor.
»Ich danke euch allen«, sagte Kutusow, »für die Mühe und den tapferen Dienst! Der Sieg ist vollkommen, und Rußland wird euch nicht vergessen!«
In den Reihen der Offiziere und Soldaten entstand eine Bewegung, um deutlicher zu hören, was Kutusow sagen werde.
»Ich weiß, Kinder, ihr habt schweren Dienst, aber was ist zu machen? Wenn wir die Gäste hinausbegleitet haben, werden wir ausruhen! Der Zar wird eure Dienste nicht vergessen! Ihr habt es schwer, aber ihr seid zu Hause, diese da aber, seht, wie weit es mit ihnen gekommen ist!« Er deutete auf die Gefangenen. »Sie sind schlimmer daran als die Bettler. Solange sie stark waren, haben wir uns nicht geschont, aber jetzt können wir sie schonen! Auch sie sind Menschen, nicht wahr, Kinder?« Er blickte sich um, und in den ehrerbietig auf ihn gerichteten Blicken las er Beistimmung zu seinen Worten.
Die Worte Kutusows waren den Leuten kaum verständlich; keiner hätte es vermocht, den Wortlaut seiner anfangs triumphierenden, gegen Ende aber greisenhaft gutmütigen Rede wiederzugeben, aber der Sinn wurde verstanden.
246
Am 8. November, dem letzten Tage der Schlacht bei Krasnoje, dämmerte es bereits, als die Truppen an die Stelle ihres Nachtlagers kamen. Der ganze Tag war still und frostig, und es fiel ein leichter Schnee. Gegen Abend hellte sich das Wetter auf, und die Kälte stieg. Ein Infanterieregiment, das aus Tarutino mit dreitausend Mann abmarschiert war, kam jetzt in der Stärke von neunhundert Mann als eines der ersten an dem zum Nachtlager bestimmten Ort in einem Dorf an der großen Straße an. Die Quartiermacher kamen dem Regiment entgegen und erklärten, alle Hütten seien von kranken und sterbenden Franzosen eingenommen. Nur eine einzige Hütte war für den Regimentskommandeur übriggeblieben.
Das Regiment marschierte durch das Dorf, und bei den letzten Hütten am Wege wurden die Gewehre zusammengestellt. Wie ein ungeheures vielgliedriges Tier begann das Regiment sogleich, sich einzurichten und Vorbereitungen zum Kochen zu treffen. Ein Teil der Soldaten lief bis zum Knie im Schnee in einen Birkenwald, rechts vom Dorfe, und bald hörte man Beilhiebe, Krachen der Bäume und heitere Stimmen. Andere gingen zu den Regimentsfuhrwerken, nahmen Kessel und Zwieback heraus aus und fütterten die Pferde. Noch andere zerstreuten sich im Dorf, sorgten für Unterkunft für die Stabsoffiziere, räumten die Leichen erfrorener Franzosen beiseite, die in den Hütten lagen, rissen Bretter ab und Stroh von den Dächern und zerstörten die Zäune. Überall hörte man lautes Lachen, Scherzreden und schreckliche Schimpfworte durcheinander.
»Was macht ihr da?« ertönte plötzlich eine herrische Stimme. »In der Hütte ist ein General, und ihr Teufel, ihr Muttermörder … ich werde euch zeigen!« schrie ein Feldwebel und schlug dem nächsten Soldaten kräftig auf den Rücken. »Könnt ihr nicht ruhig sein?«
Die Soldaten verstummten, und der Soldat, der geschlagen wurde, wischte sich das blutige Gesicht ab, das er sich zerrissen hatte, als er an den Zaun taumelte. »Ach, zum Teufel, wie er haut! Die ganze Fratze ist blutig!« flüsterte er eingeschüchtert, als der Feldwebel sich entfernte.
»Gefällt dir’s nicht?« fragte eine lachende Stimme, und die Soldaten gingen weiter.
In der Hütte sammelten sich die Offiziere, und bald war beim Tee ein lebhaftes Gespräch im Gange über die vergangenen Tage. Man sprach von einem Flankenmarsch zur Linken, um den Vizekönig abzuschneiden und gefangenzunehmen.
Auf verschiedenen Seiten flammten Lagerfeuer auf. Das Holz knisterte, der Schnee schmolz, unaufhörlich rührten sich die schwarzen Gestalten der Soldaten auf dem ganzen Lagerplatz. Auf allen Seiten arbeiteten Beile und Säbel, alles geschah ohne Befehl. Holzvorräte für die Nacht wurden aufgestapelt, die Kessel kochten.
Man hätte glauben müssen, daß die Soldaten bei den über alle Vorstellung schweren Strapazen, ohne warme Stiefel und Pelze, ohne Obdach, im Schnee bei achtzehn Grad Frost, ohne genügenden Proviant, der nicht immer die Truppen erreichte, einen sehr traurigen Anblick geboten hätten.
Aber im Gegenteil, unter den günstigsten Bedingungen sahen die Truppen nicht vergnügter und lebhafter aus. Das kam daher, daß alles, was physisch und moralisch erlahmte, zurückblieb, und nur die Blüte der Truppen in voller geistiger und körperlicher Kraft übrigblieb. »Siehst du, Petrow, der Hundesohn, ist auch zurückgeblieben«, sagte der Feldwebel.
»So ein Soldätchen!«
»Das habe ich schon lange vorausgesehen«, sagte ein anderer. »Man sagt, in der dritten Kompanie fehlen seit gestern neun Mann.«
»Nun, seht her, wie die Füße erfrieren! Wie soll man da marschieren?«
»Dummes Geschwätz!« rief der Feldwebel.
»Heute sind nicht wenig Franzosen gefangen worden, aber Stiefel hat kein einziger mehr«, fing ein Soldat ein neues Gespräch an.
»Alle haben die Kosaken ausgezogen. Für den Obersten haben sie eine Hütte ausgeräumt. Es war traurig anzusehen, Kinder. Sie haben alle ganz ausgeplündert. Einer war noch lebendig und schwatzte sein unverständliches Zeug.«
»Aber reinliche Leute, Kinder«, bemerkte der erste, »wie weißes Papier.«
»Dummkopf! Das ist ja von der Kälte.«
»Aber unsere Sprache verstehen sie nicht.«
»Vorgestern haben wir einen Haufen Flüchtlinge eingeholt: Sie warteten gar nicht ab, bis wir zu ihnen kamen, warfen gleich die Gewehre weg, schrien Pardon und warfen sich auf die Knie. Man sagt, Platow habe Napoleon gefangen.«
Bald trat Schweigen ein, das nur durch das Schnarchen einiger Schläfer unterbrochen wurde. Die übrigen wandten sich um, wärmten sich und sprachen nur noch selten. An einem anderen Lagerfeuer aber, etwa hundert Schritte entfernt, hörte man noch immer lautes Lachen.
»Was