Wenn der Mensch ein sterbendes Tier sieht, erfaßt ihn Entsetzen, aber wenn der Sterbende ein Mensch ist, und ein geliebter Mensch, dann fühlt man außer dem Entsetzen über die Vernichtung des Lebens auch eine innere Wunde, die wie eine physische Wunde zuweilen tötet, zuweilen heilt, aber immer schmerzt.
Nach dem Tode des Fürsten Andree empfanden dies Natalie und die Fürstin Marie und schützten vorsichtig diese Wunde vor schmerzlichen Berührungen. Alles, die rasch vorüberfahrenden Equipagen; die Fragen der Mädchen nach den Kleidern, die angefertigt werden sollten, und noch mehr die Worte heuchlerischer Teilnahme, alles erregte aufs neue den brennenden Schmerz.
Nur wenn sie alle beisammen waren, fühlten sie Erleichterung. Sie sprachen wenig und nur von unbedeutenden Gegenständen und vermieden alles, was sich auf die Zukunft bezog. Es erschien ihnen wie eine Beleidigung seines Andenkens, die Möglichkeit einer Zukunft anzuerkennen, und noch sorgfältiger vermieden sie in ihren Gesprächen alles, was auf den Verstorbenen Bezug hatte.
Aber der reine und vollkommene Kummer ist ebenso unmöglich wie reine und vollkommene Freude. Marie, die unabhängige Herrin ihres Schicksals und Erzieherin ihres Neffen, wurde zuerst aus dieser Welt des Kummers zum Leben zurückgerufen. Sie erhielt Briefe, die sie beantworten mußte; das Zimmer Nikolais war feucht, und er begann zu husten. Alpatitsch kam in Jaroslaw an mit Abrechnungen und Vorschlägen zum Umzuge nach Moskau, wo ihr Haus unverletzt geblieben war und nur kleiner Ausbesserungen bedurfte. Das Leben bleibt nicht stehen, man muß weiterleben, und so schwer es auch Marie fiel, aus dieser einsamen geistigen Welt herauszutreten und Natalie allein zu lassen – so wurde sie doch von den Sorgen des Lebens in Anspruch genommen. Sie schlug der Gräfin vor, Natalie mit ihr nach Moskau ziehen zu lassen, und die Eltern stimmten diesem Vorschlag freudig bei, da sie von den Moskauer Ärzten Hilfe für Natalie erhofften.
»Ich werde nirgends hinreisen«, erwiderte Natalie, als man ihr diesen Vorschlag machte, »laßt mich nur allein!« Sie lief aus dem Zimmer und verbarg mit Mühe die Tränen, die weniger von Kummer als von Verdruß und Reizbarkeit hervorgerufen worden waren. Als sie sich von Marie verlassen sah, saß Natalie meist einsam auf ihrem Zimmer, legte die Füße in die Ecke eines Diwans und blickte starr vor sich hin. Diese Einsamkeit war ihr peinlich, aber dennoch notwendig. Eines Morgens, als sie so ihrem Kummer nachhing, trat Dunjascha mit erschrecktem Gesicht ins Zimmer. »Bitte, kommen Sie zum gnädigen Herrn! Schnell!« rief sie keuchend. »Von Peter Ilitsch ein Brief!… Ein Unglück …«
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Natalie fühlte sich während dieser Zeit auch den Gliedern der Familie entfremdet und begriff nicht, was Dunjascha von Unglück sprach.
»Was können sie für Unglück haben? Sie leben, wie gewöhnlich, ruhig weiter«, dachte Natalie.
Als sie in den Saal trat, kam der Vater hastig aus dem Zimmer der Gräfin. Sein Gesicht war kummervoll und mit Tränen benetzt, er schien aus dem Zimmer entflohen zu sein, um seinen Tränen freien Lauf zu lassen. Als er Natalie erblickte, brach er mit einer verzweifelten Gebärde in krampfhaftes Schluchzen aus.
»Petja!… Petja!… Komm! Komm!… Sie… sie ruft dich!…« Und weinend wie ein Kind ging er zu einem Stuhl, fiel darauf nieder und bedeckte das Gesicht mit den Händen.
Plötzlich fuhr etwas wie ein elektrischer Schlag durch Natalies ganzes Wesen, und sie fühlte einen brennenden Schmerz. Als sie den Vater ansah und aus dem Zimmer der Mutter einen schrecklichen wilden Aufschrei vernahm, vergaß sie sich und ihren Gram. Sie eilte auf den Vater zu, aber er winkte ihr kraftlos mit der Hand und deutete nach der Tür zur Mutter. Bleich und zitternd kam Fürstin Marie aus dem Zimmer heraus, nahm Natalie an der Hand und sprach mit ihr. Aber Natalie sah und hörte nichts, mit hastigen Schritten ging sie durch die Tür zu ihrer Mutter.
Die Gräfin saß auf einem Stuhl und schlug den Kopf an die Wand, Sonja und die Zofe hielten sie am Arm zurück.
»Natalie! Natalie!« rief die Gräfin. »Es ist nicht wahr! Es ist gelogen! Natalie!« rief sie und stieß die anderen zurück. »Geht fort, alle! Es ist nicht wahr!«
Natalie stützte sich mit den Knien auf den Lehnstuhl, bückte sich zu ihrer Mutter herab, umarmte sie mit unerwarteter Kraft, hob sie auf, wandte ihr Gesicht zu sich und schmiegte sich an sie. »Mama! Mama!… Ich bin da!« flüsterte sie.
Sie ließ die Mutter nicht aus ihren Armen, verlangte ein Kissen, Wasser und knöpfte ihr das Kleid los.
»Mama! Liebe Mama!« flüsterte sie fortwährend, küßte ihr Gesicht, ihre Hände und fühlte, wie ihre Tränen über Nase und Wangen liefen.
Die Gräfin drückte die Hand ihrer Tochter, schloß die Augen und beruhigte sich auf einen Augenblick. Plötzlich erhob sie sich mit unerwarteter Schnelligkeit, blickte sich wie wahnsinnig um und drückte aus aller Kraft Natalies Kopf an sich. Dann wandte sie ihr von Schmerz verzerrtes Gesicht Natalie zu und blickte sie an.
»Natalie, du liebst mich?« flüsterte sie. »Natalie, du wirst mich nicht betrügen, du wirst mir die Wahrheit sagen?«
Natalie blickte sie mit tränenvollen Augen an, in denen nur die Bitte um Verzeihung und Liebe glänzte.
»Mama! Mama!« wiederholte sie, und wieder weigerte sich die Mutter, im unsinnigen Kampf mit der Wirklichkeit, daran zu glauben, daß sie leben könne, nachdem das blühende Leben ihres Lieblingssohnes vernichtet worden, und flüchtete sich in die Welt des Wahnsinns.
Natalie begriff nicht, wie dieser Tag, diese Nacht, der folgende Tag und die folgende Nacht verging, sie schlief nicht und verließ keinen Augenblick ihre Mutter. Die ausdauernde, geduldige Liebe wirkte nicht wie ein Trost, sondern wie ein Ruf zum Leben auf die Gräfin. In der dritten Nacht schlummerte sie kurze Zeit, und auch Natalie schloß die Augen und stützte den Kopf auf die Lehne des Sessels. Sowie das Bett krachte, öffnete Natalie die Augen. Die Gräfin saß auf dem Bett und sprach leise. »Wie freue ich mich, daß du gekommen bist!« – Natalie ging zu ihr. – »Du bist hübscher und männlicher geworden«, fuhr die Gräfin fort und ergriff die Hand ihrer Tochter.
»Mama, was sprechen Sie?«
»Natalie! Er ist nicht mehr!« Sie umarmte die Tochter, und zum erstenmal begann sie zu weinen.
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Fürstin Marie schob ihre Abreise auf. Drei Wochen lang wich Natalie nicht von der Seite ihrer Mutter, schlief auf einem Lehnstuhl bei ihr im Zimmer, pflegte sie und sprach unaufhörlich, weil nur ihre milde, freundliche Stimme die Gräfin beruhigen konnte. Aber die Wunde, welche die Gräfin beinahe tötete, diese neue Wunde rief Natalie zum Leben zurück. Sie hatte geglaubt, ihr Leben sei zu Ende, aber da zeigte ihr die Liebe zu ihrer Mutter, daß das Wesen ihres Lebens, die Liebe, in ihr noch lebendig war. Als die Liebe erwachte, erwachte auch das Leben wieder.
Die letzten Tage des Fürsten Andree hatten Natalie mit Marie eng verbunden, und das neue Unglück brachte sie einander noch näher. Es entstand jene leidenschaftliche, zärtliche Freundschaft, wie sie nur zwischen weiblichen Wesen vorkommt. Sie küßten sich beständig, redeten einander mit zärtlichen Worten an und brachten den größten Teil ihrer Zeit beisammen zu. Es war sogar noch ein stärkeres Gefühl als Freundschaft, es war das Gefühl, daß kein anderes Leben für sie möglich sei als in enger Gemeinschaft.
Zuweilen schwiegen sie ganze Stunden, zuweilen begannen sie, im Bett liegend, zu sprechen und sprachen bis zum Morgen, und meist von längst Vergangenem. Die Fürstin Marie erzählte von ihrer Kindheit, von ihrer Mutter, ihrem Vater und ihren Träumen. Natalie, die sich früher mit ruhiger Verständnislosigkeit von diesem Leben der Hingebung und des Gehorsams, von der Poesie christlicher Selbstaufopferung abgewendet hatte, begriff