Er sah und hörte nicht, wie man die liegenbleibenden Gefangenen erschoß, obgleich schon mehr als hundert auf diese Weise ums Leben gekommen waren, er dachte nicht an Karatajew, der mit jedem Tag schwächer wurde und augenscheinlich rasch demselben Schicksal entgegenging, und noch weniger dachte er an sich selbst.
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»Achtung!« schrie plötzlich eine Stimme. Unter den Gefangenen und Soldaten entstand eine freudige Bewegung und Erwartung, von allen Seiten hörte man Kommandorufe und von links her erschienen gut gekleidete Reiter auf wohlgenährten Pferden. Auf allen Gesichtern erschien der Ausdruck der Spannung, wie gewöhnlich beim Erscheinen hoher Vorgesetzter. Die Gefangenen sammelten sich in einer Gruppe, sie wurden vom Wege abgedrängt und die Wachtmannschaft stellte sich auf.
»Der Kaiser! Der Marschall! Der Herzog!« hieß es, und sogleich ritt eine Abteilung Kavallerie vorüber, und darauf folgte ein Wagen mit grauen Pferden. Peter erblickte flüchtig das ruhige, schöne, dicke und weiße Gesicht eines Mannes mit dreieckigem Hut, das war einer der Marschälle. Der Blick des Marschalls fiel auf die mächtige Figur Peters, und dieser glaubte in ihm Mitleid zu lesen, zugleich aber auch das Bestreben, es zu verbergen.
Der General, der den Wagenzug führte, galoppierte auf seinem hageren Pferd mit rotem, erschrockenem Gesicht dem Wagen nach, einige Offiziere sammelten sich in einer Gruppe, und die Soldaten umgaben sie. Alle Mienen waren erregt und gespannt.
»Was hat er gesagt?« hörte Peter. Als der Marschall vorüber war, erblickte Peter Karatajew, den er heute noch nicht gesehen hatte. Er sah Peter mit seinen guten runden Augen an und schien ihn zu sich zu rufen, um ihm etwas zu sagen, aber Peter tat, als ob er ihn nicht gesehen hätte, und ging rasch weiter. Als die Gefangenen sich wieder in Bewegung setzten, blickte sich Peter um. Karatajew saß am Rande des Weges unter einer Birke, und zwei Franzosen sprachen mit ihm. Peter sah sich nicht mehr um und ging hinkend den Berg hinan.
Von der Stelle, wo Karatajew saß, hörte man einen Schuß. Peter vernahm deutlich den Schuß, aber in dem Augenblick, als er ihn hörte, erinnerte sich Peter, daß er zu zählen begonnen hatte, wieviel Tagemärsche bis Smolensk noch übrigbleiben, und begann wieder zu zählen. Zwei Franzosen, von denen einer ein rauchendes Gewehr in der Hand hielt, liefen an ihm vorüber, beide waren bleich, Peter sah auf ihren Gesichtern denselben Ausdruck wie bei dem jungen Soldaten bei der Hinrichtung in Moskau. Dann erinnerte er sich, daß dieser Soldat vor zwei Tagen sein Hemd, das er am Feuer trocknen wollte, verbrannt hatte und dafür ausgelacht worden war. Das Hündchen, das sich immer Karatajew angeschlossen hatte, heulte und blieb an der Stelle, wo Karatajew gesessen hatte.
»Warum heult das dumme Tier?« dachte Peter.
Die Soldaten und Genossen, die neben Peter gingen, blickten sich auch nicht um nach der Stelle, woher der Schuß kam und wo das Hündchen heulte, aber ein finsterer Ausdruck lag auf allen Gesichtern.
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Der Wagenzug und die Gefangenen hielten im Dorfe Schamschewo. Alle drängten sich an die Lagerfeuer. Peter aß gebratenes Pferdefleisch, wandte den Rücken dem Feuer zu und versank sogleich in tiefen Schlaf.
»Geh zum Teufel!« schrie eine Stimme, und Peter erwachte. Er richtete sich auf. Beim Feuer hockte ein Franzose, der eben einen russischen Soldaten weggestoßen hatte, und briet ein Stück Fleisch, während sein braunes, finsteres Gesicht hell vom Feuer beleuchtet wurde. Peter wandte sich ab und blickte in die Finsternis. Der Gefangene, den der Franzose weggestoßen hatte, saß nahe dabei und klopfte etwas mit der Hand. Peter erkannte das kleine Hündchen, das mit dem Schweif wedelte und neben dem Soldaten saß.
»Eh, bist du da?« sagte Peter, »und Karat…« begann er, unterbrach sich aber. Plötzlich erinnerte er sich an den letzten Blick, mit dem ihn Karatajew angesehen hatte, an den Schuß, an das Geheul des Hündchens, an die schuldbewußten Gesichter der beiden Franzosen, die mit dem rauchenden Gewehr bei ihm vorübergelaufen waren, und daran, daß Karatajew an diesem Rastplatz fehlte. Er war schon ganz nahe daran, zu begreifen, daß Karatajew erschossen worden war, aber in demselben Augenblick erwachte ganz unerwartet in ihm die Erinnerung an einen Sommerabend, den er mit einer polnischen Schönheit auf dem Balkon seines Hauses in Kiew zugebracht hatte.
Vor Sonnenaufgang wurde er durch heftiges Schießen und Geschrei geweckt. Franzosen liefen an ihm vorüber.
»Die Kosaken!« schrie einer von ihnen, und nach wenigen Augenblicken war Peter von russischen Gesichtern umgeben. Lange konnte er nicht begreifen, was vorgegangen war, von allen Seiten hörte er laute Freudenrufe seiner Genossen, welche die Kosaken und Husaren umarmten. Diese umgaben die Gefangenen und reichten ihnen Kleidungsstücke, Stiefel und Brot. Peter weinte und konnte kein Wort hervorbringen, er umarmte den ersten Soldaten, der auf ihn zukam, und küßte ihn.
Dolochow stand an der Pforte eines zerstörten Hauses, während die Menge der entwaffneten Franzosen laut sprechend an ihm vorüberging. Als sie aber an Dolochow vorbeigingen, der mit seiner Reitgerte die Stiefel klopfte und mit seinem kalten, nichts Gutes verheißenden Blick sie ansah, verstummten sie. Auf der anderen Seite stand der Kosak Dolochows und zählte die Gefangenen.
»Wieviel?« fragte Dolochow den Kosaken.
»Im zweiten Hundert!« erwiderte der Kosak.
»Weiter! Weiter!« rief er den Franzosen zu, und seine Augen funkelten und glühten in zornigem Glanz.
Denissow ging mit düsterer Miene neben den Kosaken her, welche die Leiche von Petja Rostow nach einer im Garten gegrabenen Grube trugen.