Er überdachte alle möglichen Bewegungen der französischen Armee. Er dachte an die Möglichkeit, daß Napoleon mit einem Teil seines Heeres sich nach Petersburg wenden werde, oder daß er in Moskau bleiben werde, um ihn, Kutusow, zu erwarten. Aber was er nicht vorhersehen konnte, war eben das, was geschah, jenes unsinnige, krampfhafte Umherwerfen des französischen Heeres während der ersten elf Tage nach seinem Abmarsch von Moskau, wodurch möglich wurde, an was damals Kutusow noch nicht zu denken wagte: die vollständige Vernichtung der Franzosen. Alle Nachrichten ließen darauf schließen, daß die französische Armee erschüttert war und sich zur Flucht wende, aber das waren nur Vermutungen, und Kutusow wußte aus sechzigjähriger Erfahrung, welches Gewicht man Gerüchten beilegen darf. Er wußte, wie geneigt die Menschen sind, wenn sie etwas wünschen, alle Nachrichten so zu gruppieren, daß sie das Gewünschte bestätigen. In diese Gedanken war er in der Nacht des 11. Oktober versunken, als er im Nebenzimmer Geräusch hörte.
»Wer ist da? Was gibt es Neues?«
Während ein Diener eine Kerze anzündete, traten die Generale Toll und Konownizin mit Bolchowitinow ein. Toll berichtete den Inhalt der überbrachten Nachricht und war erstaunt über den Ausdruck kalter Strenge auf Kutusows Gesicht.
»Sprich! Sprich, Freundchen!« sagte er zu Bolchowitinow. »Komm näher! Was hast du mir für Nachrichten gebracht? Was? Napoleon ist aus Moskau abmarschiert? Ist’s wirklich so? Wie?«
Bolchowitinow meldete von Anfang an genau, was ihm aufgetragen war. »Sprich schneller, schneller!« unterbrach ihn Kutusow.
Als Bolchowitinow zu Ende war, wollte Toll sprechen, aber Kutusow unterbrach ihn. Er wollte etwas sagen, plötzlich aber verzog sich sein Gesicht, er winkte Toll mit der Hand zu, wandte sich um und zog sich in eine Ecke der Hütte zurück.
»Herr, mein Schöpfer, du hast unser Gebet erhört«, sagte er mit zitternder Stimme und gefalteten Händen. »Rußland ist gerettet! Ich danke dir, Herr!« Darauf brach er in Tränen aus.
231
Der sogenannte Partisanenkrieg begann schon mit dem Einmarsch des Feindes in Moskau. Schon ehe derselbe offiziell von unserer Regierung anerkannt wurde, waren schon Tausende von Feinden, Nachzüglern und Marodeuren durch Kosaken und Bauern vernichtet worden. Am 24. August wurde das erste Streifkorps unter Dawidow errichtet, und je weiter der Feldzug sich ausdehnte, um so mehr vergrößerte sich die Zahl dieser Streifkorps. Ihre Zahl betrug schon Hunderte, als die Franzosen nach Smolensk zu flohen. Einige derselben hatten ein militärisches Ansehen mit Infanterie, Artillerie, Stäben und so weiter, andere bestanden nur aus Kosaken, und dann gab es noch kleinere zu Fuß und zu Pferde, welche nur aus Bauern bestanden, unter dem Befehl eines unbekannten Gutsbesitzers oder Kirchensängers, die einige hundert Gefangene im Monat machten. Ende Oktober stand der Kleinkrieg in voller Blüte. Die erste Periode, wo sie sich selbst wunderten über ihre Kühnheit und beständig fürchteten, von den Franzosen gefangen zu werden, war schon vorüber. Jetzt hielten kleinere Partisangruppen, welche schon lange angefangen hatten und die Franzosen näher kannten, vieles für möglich, was vorsichtigere Anführer mit militärischen Abteilungen nicht wagten, ja, sie hielten schon alles für möglich.
Am 22. Oktober befand sich Denissow mit seinem Streifkorps in heftiger Erregung. Seit dem Morgen waren sie unterwegs und den ganzen Tag folgten sie durch die Wälder längs der großen Straße einem großen, französischen Transport von Kavalleriematerialien und russischen Gefangenen, welcher sich von den übrigen Truppen abgesondert hatte und unter starker Bedeckung, wie die Kundschafter berichteten, sich gegen Smolensk bewegte. Von diesem Transport wußten nicht nur Denissow und Dolochow, der auch ein kleines Streifkorps befehligte und in der Nähe von Denissow sich bewegte, sondern auch die Anführer kleinerer militärischer Abteilungen, und Denissow beschloß daher, diesen zuvorzukommen und mit Dolochow den Transport anzugreifen. Dieser marschierte am 22. Oktober vom Dorfe Mikulino nach dem Dorfe Schamschewo. Zur Linken vom Wege von Mikulino nach Schamschewo erstreckten sich große Wälder, welche sich zuweilen dem Wege näherten oder von ihm entfernten. Am Morgen nahmen die Kosaken zwei Fuhren weg, die im Schlamm auf dem Wege steckengeblieben waren und Kavalleriesättel enthielten, und führten sie in den Wald. Bis zum Abend folgte das Streifkorps, ohne anzugreifen, den Franzosen. Denissow wollte sie nicht aufschrecken, sondern ruhig bis Schamschewo gelangen lassen, dann aber mit Dolochow vereinigt, gegen Morgen von zwei Seiten her den Feind überfallen. Hinten, zwei Werst von Mikulino, dort wo der Wald die Straße erreicht, wurden sechs Kosaken zurückgelassen, die sogleich die Meldung machen sollten, sobald sich neue französische Kolonnen zeigten. Vorn aber, vor Schamschewo, sollte Dolochow ebenso auf dem Wege folgen, um zu ermitteln, in welcher Entfernung andere französische Truppen seien. Man schätzte die Mannschaft bei dem Transport auf fünfzehnhundert Mann, Denissow hatte zweihundert und Dolochow etwa ebensoviel. Aber die Übermacht konnte Denissow nicht abhalten. Er mußte nur noch wissen, was das für Truppen waren, und zu diesem Zweck mußte Denissow einen der Feinde gefangennehmen. Der Angriff auf die Fuhre am Morgen war so heftig erfolgt, daß die sie begleitenden Franzosen alle getötet, und nur ein kleiner Knabe, ein Trommler, lebendig gefangen wurde, der nichts Zuverlässiges über die Truppen bei dem Transport aussagen konnte. Einen nochmaligen Angriff hielt Denissow für gefährlich, um nicht die ganze Kolonne wachsam zu machen, und deshalb sandte er nach Schamschewo einen Bauern, Tichon, voraus, um, wenn möglich, wenigstens einen der französischen Quartiermacher, die dort gewesen waren, zu fangen.
232
Es war eine warme Regennacht. Denissow bückte wie sein Pferd den Kopf herab wegen des Regens und blickte aufmerksam nach vorwärts. Sein hageres, bärtiges Gesicht hatte einen zornigen Ausdruck. Neben ihm ritt ein Esaul, ein Kosakenhauptmann, auf einem wohlgenährten Pferd.
Der Esaul Lowaisky war ein langer, blondlockiger Mann, dünn wie ein Brett, mit kleinen, hellen Äuglein und selbstzufriedener Miene. Etwas vor ihnen ging ein durchnäßter Bauer, ein Wegzeiger, im grauen Kaftan mit weißer Mütze. Etwas hinter ihnen ritt ein junger Offizier in einem blauen französischen Mantel auf einem hagern Kirgisenpferd mit mächtigem Schweif und dichter Mähne, und neben diesem ritt ein Husar, der hinter sich einen Knaben in zerrissener französischer Uniform und blauer Mütze hatte. Der Knabe hielt sich mit roten Händen am Husaren fest. Das war der gefangene französische Trommelschläger. Hinter ihnen ritten Husaren zu dreien oder vieren auf einem engen Waldwege, dann Kosaken, zum Teil in Filzmänteln, zum Teil in französischen Mänteln. Die Kleider, die Sättel, die Zügel, alles war feucht wie die Erde und die herabgefallenen Blätter, mit denen der Weg bestreut war. Denissow war schlechter Laune, sowohl wegen des Regens als wegen des Hungers, denn seit dem frühen Morgen hatte niemand gegessen, besonders aber deshalb, weil von Dolochow bisher keine Nachricht gekommen war.
Als sie auf eine Waldlichtung kamen, von welcher man weit nach rechts sehen konnte, hielt Denissow an.
»Dort kommt etwas!« sagte er.
Der Esaul blickte nach der angegebenen Richtung.
»Dort reiten zwei – ein Offizier und ein Kosak.«
Bald verschwanden die Reiter und nach einigen Augenblicken zeigten sie sich wieder. Der Offizier ritt voraus in einem müden Galopp, mit ganz durchnäßten, bis unter die Knie aufgeschlagenen Beinkleidern. Hinter ihm trabte ein Kosak aufrecht in den Steigbügeln. Der Offizier, ein sehr junger Mensch mit breitem, rotem Gesicht und recht vergnügten Äuglein, ritt auf Denissow zu und übergab ihm einen durchnäßten Brief.
»Vom General«, sagte er. »Entschuldigen Sie, daß er nicht ganz trocken ist.«
Denissow nahm den Brief mit finsterer Miene und erbrach ihn.
»Alle sagten, es sei gefährlich,