Einer der Ärzte mit einer blutigen Schürze und blutigen, kleinen Händen kam aus dem Zelt heraus und hielt eine Zigarre vorsichtig in den Fingern, um sie nicht zu beflecken. Er blickte sich ringsum, aber über die Verwundeten weg, augenscheinlich wollte er sich ein wenig erholen.
»Gleich«, erwiderte er einem Feldscher, der auf den Fürsten Andree deutete. Darauf befahl er, ihn in das Zelt zu tragen. Unter den übrigen Verwundeten erhob sich ein Flüstern. Fürst Andree wurde auf einen flüchtig gereinigten Tisch gelegt. Er vermochte nicht zu unterscheiden, was im Zelt war und vernahm klägliches Stöhnen von allen Seiten. Dabei empfand er einen heftigen Schmerz in der Hüfte und im Rücken. Alles, was er um sich sah, floß zu einem einzigen blutigen Bild zusammen. Einige Zeit blieb er allein und sah unwillkürlich, was an den anderen Tischen vorging. Auf dem nächsten Tisch saß ein Tatar, wahrscheinlich ein Kosak, nach der Uniform zu schließen, die neben ihm lag. Vier Soldaten hielten ihn, ein Arzt mit einer Brille schnitt etwas in seinem braunen, muskulösen Rücken.
»Ach! Ach! Ach!« brüllte der Tatar. Plötzlich erhob er sein schwarzes, stumpfnasiges Gesicht, zeigte seine weißen Zähne und begann sich lange zu recken unter durchdringendem Kreischen.
Auf dem anderen Tisch, um den sich viele gesammelt hatten, lag ein großer, dicker Mensch auf dem Rücken, mit zurückgeworfenem Kopf. Die Farbe seiner verwirrten Haare und die Stellung des Kopfes erschienen Fürst Andree bekannt. Einige Feldschere drehten den Menschen auf den Rücken und hielten ihn fest, ein großes, weißes Bein zuckte unaufhörlich, während der Mensch krampfhaft schluchzte. Zwei Ärzte, von denen der eine bleich war und zitterte, arbeiteten schweigend an dem anderen roten Bein dieses Menschen. Der Arzt mit der Brille, welcher mit dem Tatar fertig geworden war, wischte sich die Hände ab und ging auf Fürst Andree zu. Er blickte in sein Gesicht und wandte sich hastig ab.
»Entkleiden! Was steht ihr da?« rief er zornig den Feldscherern zu.
Die Erinnerungen seiner frühesten Jugend erwachten in Fürst Andree, während der Feldscher mit hastigen Händen den Rock aufknöpfte und abnahm. Der Arzt bückte sich tief auf den Verwundeten herab, befühlte ihn und seufzte schwer. Dann machte er jemand ein Zeichen. Fürst Andree verlor unter dem heftigen Schmerz das Bewußtsein. Als er wieder erwachte, waren die zersplitterten Knochen der Hüfte ausgeschnitten und die Wunde verbunden. Man spritzte ihm Wasser ins Gesicht, und wie Fürst Andree die Augen öffnete, bückte sich der Doktor auf ihn herab, küßte schweigend seine Lippen und wandte sich hastig um.
Fürst Andree empfand nach den durchgemachten Leiden ein wonniges Gefühl, wie er es lange nicht gekannt hatte. Alle die besten, glücklichsten Augenblicke seines Lebens, besonders seiner frühesten Kindheit lebten wieder auf in ihm, nicht als Vergangenheit, sondern als wirkliche Gegenwart.
Jetzt waren die Ärzte bei jenem Verwundeten beschäftigt, welcher Fürst Andree vorhin aufgefallen war. Man hob ihn auf und suchte ihn zu beruhigen.
»Zeigen Sie mir … Oh! Oh! Oh!« rief er unter Weinen und Stöhnen.
Auch Fürst Andree war dem Weinen nahe. Man zeigte dem Verwundeten das abgenommene Bein im Stiefel mit angetrocknetem Blut.
»Oh! Oh!« weinte er wie ein Weib. Der Arzt, der bei dem Verwundeten stand, wandte sein Gesicht ab und ging hinaus.
»Mein Gott! Wer ist das? Warum ist er hier?« fragte sich Fürst Andree. Er hatte in dem unglücklichen, weinenden, hilflosen Menschen, dem man das Bein abgenommen hatte, Anatol Kuragin erkannt.
»Ja, das ist er!« dachte Fürst Andree, und plötzlich erinnerte er sich wieder an Natalie, wie er sie zum erstenmal auf dem Ball vor zwei Jahren gesehen hatte, mit dem feinen Hals und den dünnen Händen, mit lebenslustigem, glücklichem Gesicht, und in seiner Seele erwachte wieder mit neuer Gewalt die Zärtlichkeit und Liebe zu ihr. Er vermochte sich nicht mehr zu halten und vergoß Tränen der Liebe und Rührung über die Menschen, über sich selbst, über ihre und seine Verirrungen.
179
ALS die russischen Truppen sich von Borodino zurückzogen, nachdem sie in einer blutigen Schlacht die Hälfte ihrer Truppen verloren hatten, nahmen sie bei Fili Stellung. Jermolow, der die Stellung besichtigt hatte, kam zum Feldmarschall. »Es ist unmöglich, sich in dieser Stellung zu schlagen«, sagte er.
Kutusow blickte ihn verwundert an und streckte seine Hand aus. »Gib deine Hand her«, sagte er und suchte seinen Puls. »Du bist nicht gesund, mein Täubchen, bedenke, was du sprichst!« Sechs Werst von Moskau stieg er aus dem Wagen und setzte sich auf eine Bank am Wege. Eine große Menge von Generalen sammelte sich um ihn, darunter auch Graf Rostoptschin, der aus Moskau gekommen war. Diese ganze glänzende Gesellschaft, die sich in einzelne Kreise teilte, sprach über die Vorteile und Nachteile der Stellung, über die Lage des Heeres, über fernere Pläne und den Zustand Moskaus. Alle fühlten, daß das ein Kriegsrat war, wenn er auch nicht so genannt wurde, und alle bestrebten sich, so zu sprechen, daß der Kommandierende sie hören konnte.
Kutusow hörte zu, wandte sich aber immer wieder enttäuscht ab. Die einen sprachen von der neuen Stellung, andere behaupteten, man hätte die Schlacht schon vor drei Tagen annehmen müssen, wieder andere sprachen von der Schlacht bei Salamanka und der Belagerung von Saragossa. Graf Rostoptschin sprach davon, er sei bereit, mit den Moskauer Landsturmleuten unter den Mauern der Residenz zu sterben, aber er müsse doch bedauern, daß man ihn in Unwissenheit gelassen habe; wenn er das früher gewußt hätte, wäre es anders. Noch andere bewiesen die Tiefe ihres strategischen Scharfsinnes, indem sie von der Richtung des ferneren Rückzuges sprachen, und manche schwatzten offenbaren Unsinn. Wenn Bennigsen auf der Verteidigung dieser Stellung bestand, und andere sie wieder kritisierten, so handelte es sich dabei nicht mehr um die Sache selbst, sondern es war nur Vorwand zu Streit und Intrige. Das begriff Kutusow. Er durchschaute Bennigsens Absicht. Wenn die Verteidigung erfolglos war, so wollte er die Schuld auf Kutusow wälzen, wenn sie Erfolg hatte, so wollte er diesen sich selbst zuschreiben. Wenn sich Kutusow weigerte, so war Bennigsen gerechtfertigt und hatte keinen Teil an dem Verbrechen, Moskau aufzugeben; Doch diese Frage beschäftigte jetzt den alten Mann nicht, sondern eine andere Frage, auf die er keine Antwort finden konnte. Es war die Frage: »Habe ich wirklich Napoleon bis Moskau kommen lassen? Und wann habe ich das getan? Wann war der Wendepunkt? Vielleicht gestern, als ich Platow befahl, sich zurückzuziehen? Oder vorgestern, als ich einschlummerte und Bennigsen das Kommando übergab? Oder noch früher? Aber wann, wann war dieser Wendepunkt? Jetzt muß Moskau aufgegeben werden, und die Truppen müssen sich zurückziehen! Und diesen Befehl muß ich erlassen!« Er war überzeugt gewesen, daß er zur Befreiung Rußlands bestimmt und nur deshalb gegen den Willen des Kaisers auf den Wunsch des Volkes zum Oberkommandierenden erwählt worden sei, und nun entsetzte er sich vor dem Gedanken, daß er jetzt diesen Befehl geben sollte. Aber ein Beschluß mußte gefaßt werden, diesen Gesprächen um ihn her mußte ein Ende gemacht werden, die bereits anfingen, einen allzu freien Charakter anzunehmen. Er berief die alten Generale zu sich.
180
In einer geräumigen Bauernhütte versammelte sich um zwei Uhr der Kriegsrat. Die kleine Enkelin des Bauern, Malascha, ein sechsjähriges Mädchen, dem Kutusow ein Stück Zucker gab, blieb in der großen Hütte auf dem Ofen und blickte schüchtern herab auf die glänzende Uniform des Großväterchens, wie Malascha Kutusow nannte. Dieser saß besonders in einer dunklen Ecke hinter dem Ofen auf einem Feldstuhl und zog beständig an dem Kragen seines Mantels, der ihn zu drücken schien. Einigen der eintretenden Generale drückte er die Hand, anderen nickte er mit dem Kopf zu. Kaissarow wollte den Vorhang vom Fenster zurückziehen, aber Kutusow winkte ihm ärgerlich mit der Hand, und Kaissarow begriff, daß er sein Gesicht nicht sehen lassen wollte. Man erwartete noch Bennigsen, der sein Mittagsmahl beendigte unter dem Vorwand,