Noch während er das tat, wich Rostows Aufregung plötzlich. Der Offizier fiel herab, weniger wegen des Säbelhiebs, der nur seinen Arm über dem Ellbogen leicht streifte. Rostow hielt sein Pferd an und suchte seinen Feind mit den Augen, um zu sehen, wen er erwischt habe. Der französische Offizier war mit einem Fuß auf die Erde gesprungen, während der andere sich im Steigbügel verwickelte. Er blinzelte erschreckt, als ob er jeden Augenblick einen neuen Streich erwartete und blickte mit dem Ausdruck des Schreckens nach Rostow hinauf. Sein bleiches, mit Schmutz bespritztes, blondlockiges, junges Gesicht mit einem Grübchen am Kinn und hellen, blauen Augen war viel zu gemütlich für ein Schlachtfeld.
»Ich ergebe mich!« schrie der Franzose und machte heftige Bewegungen, um seinen Fuß aus dem Steigbügel zu befreien. Einige Husaren liefen herbei und halfen ihm wieder aufs Pferd. Von verschiedenen Seiten wurden gefangene Dragoner herbeigeführt, französische Infanterie kam feuernd näher, und die Husaren galoppierten mit ihren Gefangenen zurück. Bei der Gefangennahme des Offiziers und dem Streich, den er nach ihm führte, hatte Rostow eine unklare, verworrene Empfindung, die er sich nicht erklären konnte.
Als Rostow zum Grafen Ostermann berufen wurde, war er fest überzeugt, daß er wegen seines eigenmächtigen Angriffs bestraft werden würde, aber der General dankte ihm und sagte, er werde für ihn das Georgenkreuz erbitten. Aber auch diese freudige Überraschung konnte nicht jenes unangenehme, unklare Gefühl in ihm zum Schweigen bringen. »Was ist mir denn?« fragte sich Rostow. – »Ja, dieser französische Offizier mit dem Grübchen ist es, und ich erinnere mich wohl, wie mein Arm unwillkürlich anhielt, als ich ihn zum Streich aufhob.«
Er holte die französischen Gefangenen ein, um seinen Franzosen mit dem Grübchen am Kinn zu sehen. Dieser saß mit seiner blauen Uniform auf einem Husarenpferd und blickte sich unruhig um. Seine Wunde am Arm war ganz unbedeutend. Er lächelte Rostow gezwungen zu und winkte ihm mit der Hand, aber Rostow konnte sich von diesem unbehaglichen, vorwurfsvollen Gefühl nicht befreien. Diesen und den folgenden Tag bemerkten seine Freunde und Kameraden, daß er nicht zornig oder mürrisch, aber schweigsam und nachdenklich war. Er trank nicht und wollte allein bleiben, konnte aber immer nicht zu einer klaren Erkenntnis seines Zustandes kommen.
»Sie fürchten sich also mehr als die unserigen«, dachte er. »Das ist es also, was Heldenmut genannt wird! Und habe ich es etwa fürs Vaterland getan? Und was hat er verbrochen mit seinem Grübchen und seinen blauen Augen? Und wie er sich fürchtete! Er dachte, ich werde ihn erschlagen. Warum sollte ich das tun? Mein Arm zuckte, ich vermochte es nicht, und nun gibt man mir das Georgenkreuz! Ich kann es nicht verstehen!«
Während Nikolai sich mit diesen Fragen abquälte, hatte sich das Rad des Glücks im Dienste, wie es oft geschieht, zu seinen Gunsten gedreht. Er wurde befördert, und wenn zu einem Auftrag ein tapferer Offizier nötig war, wurde er berufen.
145
Als die Gräfin die Nachricht von Natalies Krankheit in Moskau erhielt, fuhr sie noch krank und schwach mit Petja und dem ganzen Haus nach Moskau. Die ganze Familie zog von Maria Dmitrijewna in das eigene Rostowsche Haus und ließ sich ganz in Moskau nieder.
Die Krankheit Natalies war so ernst, daß der Gedanke an die Veranlassung dieser Krankheit zurücktrat, man mußte nur daran denken, ihr zu helfen. Ärzte wurden berufen und berieten sich, sprachen viel Französisch, Deutsch und Lateinisch, zankten miteinander und verschrieben die verschiedenartigsten Heilmittel gegen alle ihnen bekannten Krankheiten. Aber keinem kam der ganz einfache Gedanke in den Sinn, daß ihnen die Krankheit, an der Natalie litt, gar nicht bekannt sein könne, weil jeder lebendige Mensch seine Eigenheit hat, eine besondere, neue, komplizierte, der Medizin unbekannte Krankheit, nicht eine Krankheit der Lunge, der Haut, des Herzens, der Nerven und so weiter, wie sie in den medizinischen Büchern beschrieben sind, sondern eine Krankheit, welche aus einer der zahllosen Kombinationen von Leiden dieser Organe besteht. Dieser einfache Gedanke konnte den Ärzten nicht in den Kopf kommen, weil es die Aufgabe ihres Lebens ist, zu kurieren, weil sie dafür Geld erhalten. Aber auch deshalb konnte dieser Gedanke den Ärzten nicht in den Kopf kommen, weil sie sahen, daß sie wirklich unzweifelhaft nützlich waren für alle Familienmitglieder. Sie waren nützlich, weil sie jenes Bedürfnis nach Hoffnung und Mitleid, jenes Verlangen eines leidenden Menschen, daß etwas geschehen solle, befriedigten, sie waren auch dadurch nützlich für Natalie, daß sie ihr Händchen rieben und ihr versicherten, es werde alles wieder gut werden, wenn der Kutscher in die Apotheke fahren und für einen Rubel und siebzig Kopeken Pülverchen und Pillen in einem schönen Schächtelchen abholen werde, und wenn sie diese Pülverchen genau alle zwei Stunden – nicht mehr, nicht weniger – in abgekochtem Wasser einnehmen werde.
Was hätten Sonja, der Graf und die Gräfin angefangen ohne diese Pillen, die Hühnerkotelette und alle Vorschriften über die Lebensweise der Kranken, welche den Angehörigen zum Trost gereichen. Wie hätte der Graf die Krankheit seiner geliebten Tochter ertragen, wenn er nicht gewußt hätte, die Krankheit koste tausend Rubel, und er würde sich um weitere tausend auch nicht grämen, um sie gesund zu machen, und wenn sie sich nicht bessern würde, würde er noch tausend daran rücken und sie ins Ausland bringen, um dortige Ärzte zu befragen. Was hätte die Gräfin getan, wen sie nicht zuweilen mit der kranken Natalie darüber hätte zanken können, daß sie die Vorschriften des Arztes nicht pünktlich beobachtete?
»Du wirst nie gesund werden«, sagte sie, »wenn du den Ärzten nicht folgst und zur rechten Zeit die Medizin einnimmst. Da ist nicht zu spaßen, wenn sich bei dir eine Pneumonie bilden kann«, sagte die Gräfin. Bei diesem ihr unverständlichen Wort fand sie schon einen großen Trost und vergaß den Kummer über ihrem Zürnen. Was hätte Sonja gemacht ohne das freudige Bewußtsein, daß sie sich drei Nächte nicht entkleidet hatte, nur um dafür zu sorgen, daß alle Vorschriften des Arztes genau befolgt werden, und daß sie jetzt des Nachts nicht schlafe, nur um nicht die Stunde zu versäumen, zu welcher die Kranke die unschädlichen Pillen aus dem goldenen Schächtelchen erhalten sollte. Wenn auch Natalie sagte, keine Medizin könne ihr helfen, so war es für sie doch eine Genugtuung, daß sie durch Vernachlässigung der ärztlichen Vorschriften beweisen konnte, daß sie ihres Lebens überdrüssig sei. Der Arzt kam jeden Tag, befühlte den Puls, besah die Zunge, achtete nicht auf ihre niedergeschlagene Miene und scherzte mit ihr. Aber wenn er ins Nebenzimmer ging, folgte ihm die Gräfin hastig nach. Er nahm eine ernste Miene an, wiegte den Kopf und sagte, wenn auch noch Gefahr vorhanden sei, hoffe er doch auf die Wirkung dieser letzten Medizin, man müsse abwarten, die Krankheit sei gar seltener Art und so weiter.
Die Anzeichen der Krankheit Natalies bestanden darin, daß sie wenig aß, wenig schlief, hustete und teilnahmslos blieb und deshalb brachten Rostows den ganzen Sommer 1812 in der Stadt zu.
Trotz der großen Anzahl von Pillen, Tropfen und Pülverchen, die sie aus Gläsern und Schachteln eingenommen hatte, erlangte doch die Jugendkraft die Oberhand, und das Vergangene lag nicht mehr mit solchem schweren Druck auf ihrem Herzen.
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Natalie war ruhiger, aber nicht heiterer, sie vermied alle Vergnügungen, Konzerte, Theater, Bälle, lachte niemals, ohne daß dabei Tränen wahrnehmbar geworden wären. Alle früheren Interessen des Lebens waren für sie erstorben. Sie bemühte sich sichtlich,