Der Alte blickte seinen Sohn anfangs erstaunt an.
»Welche Genossen? Was meinst du? Hast du dich schon bereden lassen, wie?«
»Väterchen, ich wollte nicht richten«, sagte Fürst Andree in zärtlichem Ton, »aber Sie haben mich herausgefordert, und ich kann nur sagen, Fürstin Marie ist unschuldig! Schuldig ist nur diese Französin.«
»Ah, verurteilt! Verurteilt!« sagte der Alte mit einiger Verlegenheit, wie Fürst Andree glaubte, dann aber plötzlich sprang er auf und schrie: »Fort! Fort! Lasse dich nicht wieder hier blicken!«
Fürst Andree wollte sogleich abreisen, aber Marie bat ihn, noch einen Tag zu bleiben. An diesem Tag sah er den alten Fürsten nicht, welcher nicht herauskam und niemand zu sich ließ, außer Mademoiselle Bourienne und Tichon, und mehrmals fragte, ob sein Sohn abgereist sei.
Am anderen Tag vor seiner Abreise war Fürst Andree in seinen Zimmern. Der gesunde, lockenköpfige Knabe saß auf seinem Knie. Fürst Andree erzählte ihm das Märchen vom Blaubart und verfiel in Nachdenken. Zu seinem Entsetzen empfand er keine Reue darüber, daß er den Vater gereizt hatte, noch Bedauern darüber, daß er ihn bald verlassen werde. Wichtiger als alles war für ihn das, daß er die frühere Zärtlichkeit zu seinem Sohn in sich selbst suchte und nicht fand.
»Nun, erzähle doch!« sagte der Kleine.
Fürst Andree nahm ihn vom Knie herab, ohne zu antworten und ging im Zimmer auf und ab. Sobald Fürst Andree seine alltägliche Beschäftigung aufgegeben hatte und in die frühere Umgebung zurückgekehrt war, in der er sich einst glücklich gefühlt hatte, erfaßte ihn die Schwermut mit neuer Kraft, und es drängte ihn, diesen Erinnerungen zu entgehen und recht bald irgendeine Tätigkeit zu finden.
»Du fährst wirklich fort, Andree?« fragte ihn seine Schwester.
»Gott sei Dank, daß ich fort kann«, erwiderte er. »Ich bedaure nur sehr, daß du das nicht auch kannst.«
»Warum möchtest du das?« erwiderte Marie. »Jetzt, wo du in diesen schrecklichen Krieg ziehst, und er so alt ist? Mademoiselle Bourienne sagte, er habe nach dir gefragt.« Bei diesen Worten zuckten ihre Lippen. Fürst Andree wandte sich ab und ging wieder im Zimmer umher.
»Ach, mein Gott«, sagte er, »welche geringfügigen Ursachen können das Unglück der Menschen machen!«
Sie begriff, daß er unter geringfügigen Ursachen nicht nur Mademoiselle Bourienne, sondern auch jenen Menschen verstand, der sein Glück zerstört hatte.
»Andree, ich bitte dich«, sagte sie mit strahlenden Augen, »denke nicht, daß die Menschen den Kummer verursachen. Er sendet ihn, sie sind nur seine Werkzeuge. Und wenn du auf jemand einen Groll hast, so vergiß ihn und vergib! Wir haben nicht das Recht zu strafen, und du wirst das Glück, zu vergeben, kennenlernen.«
»Wenn ich ein Weib wäre, so würde ich das tun, Marie. Das ist die Tugend der Frauen, aber ein Mann soll und kann nicht vergessen und vergeben«, sagte er, und die Wut erwachte neu in seinem Herzen. »Wenn sie mir zuredet, zu vergeben, so bedeutet das, daß ich schon lange hätte strafen sollen«, dachte er.
Sie bat ihn, noch einen Tag zu warten, stellte ihm vor, wie unglücklich der Vater sein werde, wenn er fortfahre, ohne sich mit ihm versöhnt zu haben. Aber Andree erwiderte, er werde wahrscheinlich bald von der Armee zurückkommen und wolle dem Vater schreiben.
Er nahm Abschied von seiner Schwester.
»So muß es sein«, dachte Fürst Andree, als er die Allee hinabfuhr. »Sie ist ein bedauernswertes, unschuldiges Geschöpf. Der Alte fühlt sich schuldig ihr gegenüber, kann sich aber nicht ändern. Mein Knabe wird wachsen und sich des Lebens freuen, und es wird ihm ebenso gehen wie allen, er wird betrogen werden oder selbst betrügen. Warum gehe ich zur Armee? – Ich weiß es selbst nicht. Ich muß jenen Menschen finden, den ich verachte, um ihm die Gelegenheit zu geben, mich zu töten und zu verlachen.«
139
Fürst Andree kam gegen Ende Juni im Hauptquartier an. Die erste Armee, bei der sich der Kaiser befand, lag in dem befestigten Lager bei Drissa. Die zweite Armee, welche, wie man sagte, durch starke französische Streitkräfte abgeschnitten war, suchte sich mit der ersten zu vereinigen. Alle waren unzufrieden über den Verlauf des Feldzugs, aber niemand dachte daran, daß der Krieg sich weiter erstrecken könne als über die westlichen polnischen Gouvernements.
Fürst Andree traf Barclay de Tolly, dem er zugeteilt war, am Ufer der Drissa. Da sich in der Nähe des Lagers kein größeres Dorf befand, so war die große Anzahl von Generalen und Höflingen, die sich bei der Armee befand, in einem Umkreis von zehn Kilometern in den besten Häusern verteilt. Barclay de Tolly hatte sein Quartier vier Kilometer vom Kaiser entfernt. Er empfing Bolkonsky kalt und trocken und sagte mit seiner deutschen Aussprache, er werde dem Kaiser über ihn Meldung machen, und bis der Kaiser Bestimmung über seine Verwendung getroffen haben werde, bitte er ihn, bei seinem Stabe zu bleiben. Anatol Kuragin fand Andree nicht bei der Armee. Er war in Petersburg, und diese Nachricht war Bolkonsky angenehm. Die Vorgänge des ungeheuren Krieges nahmen Fürst Andree ganz in Anspruch, und er war erfreut, den Gedanken an Kuragin auf einige Zeit loszuwerden. Während der ersten vier Tage besichtigte Fürst Andree das ganze befestigte Lager und suchte sich einen bestimmten Begriff davon zu machen. Die Frage, ob das Lager nützlich oder unnütz sei, ließ er unentschieden, er hatte aus seiner Kriegserfahrung schon die Überzeugung gewonnen, daß die tiefsinnigsten Pläne nichts bedeuten und daß alles davon abhängt, wie man unvorhergesehenen Bewegungen des Feindes begegnet, und durch wen und wie die Sache geleitet wird.
Als der Kaiser sich noch in Wilna befand, war das Heer in drei Armeen geteilt. Die erste stand unter Barclay de Tolly, die zweite unter Bagration und die dritte unter Tormassow. Der Kaiser befand sich bei der ersten Armee, aber nicht in der Eigenschaft eines Oberkommandierenden, er hatte auch nur einen Stab des Kaiserlichen Hauptquartiers bei sich und nicht den eines Oberkommandierenden. Außerdem befand sich in der Nähe des Kaisers ohne Kommando Araktschejew, der frühere Kriegsminister, dann Graf Bennigsen, im Rang der älteste General, der Großfürst, der Kanzler, Graf Rumjanzow, Stein, der frühere preußische Minister, der schwedische General Armfeldt, ferner General Pfuel, der hauptsächlich den Feldzugsplan ausgearbeitet hatte, General Paulucci und viele andere. Alle diese Personen hatten, wenn auch keine bestimmte Stellung, doch Einfluß, und oft wußte ein Korpskommandierender nicht, in welcher Eigenschaft bald von Bennigsen, bald vom Großfürsten, bald von Araktschejew ihm Befehle erteilt wurden und ob diese Herren für ihre Person sprachen, oder ob ein ihm in Form eines Rats erteilter Befehl vom Kaiser ausging, ob man ihn erfüllen müsse oder nicht. Aber das waren innerliche Umstände, der wirkliche Sinn der Anwesenheit des Kaisers und aller dieser Persönlichkeiten vom Standpunkt des Hofes aus war allen klar und war folgender: Der Kaiser nahm nicht das Oberkommando auf sich, aber verfügte über alle Armeen, die Leute, die ihn umgaben, waren seine Gehilfen. Araktschejew war der treue Vollführer, der Wächter der Ordnung und Leibwächter des Kaisers. Bennigsen war ein Gutsbesitzer aus dem Wilnaschen Gouvernement, welcher anscheinend mit der Aufnahme und Bewirtung des Kaisers beschäftigt, in Wirklichkeit aber ein guter General war, nützlich im Rat und als stets bereiter Ersatzmann für Barclay. Der Großfürst war hier, weil es ihm so gefiel. Der frühere Minister Stein war da, weil er nützlich im Rat war und weil Kaiser Alexander seine Eigenschaften hochschätzte. Armfeldt war ein boshafter Neider Napoleons, besaß großes Selbstvertrauen und hatte immer Einfluß auf Alexander. Paulucci war da, weil er dreist und entschieden sprechen konnte, die Generale waren da, weil sie überall waren, wo der Kaiser