»Im Gegenteil, Majestät«, sagte Balaschew, welcher mit Mühe diesem Feuerwerk von Worten folgte, »das Heer glüht vor Verlangen …«
»Ich weiß alles«, unterbrach ihn Napoleon. »Ich kenne auch die Zahl Ihrer Batterien so gut wie die meinigen, ich habe nicht zweihunderttausend Mann, ich habe mehr als das Doppelte, und ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß ich fünfhunderttausend Mann auf diesem Ufer der Weichsel habe.« Auf manche Phrase Napoleons wollte Balaschew etwas erwidern, aber Napoleon ließ ihn nicht zu Worte kommen. Balaschew wußte, daß alles, was Napoleon jetzt sagte, keine Bedeutung hatte, daß er sich selbst später dessen schämen werde.
»Was frage ich nach Ihren Verbündeten?« fuhr Napoleon fort. »Ich habe auch Verbündete, das sind die Polen, sie zählen achtzigtausend und schlagen sich wie Löwen und werden ihrer bald zweihunderttausend sein!« Noch mehr aufgeregt durch das, was er sagte, sprach Napoleon augenscheinlich die Unwahrheit, und noch mehr erregt durch das Schweigen Balaschews trat er mit heftiger Gebärde ihm näher. »Wissen Sie, daß ich, wenn Sie Preußen gegen mich aufregen, es von der Karte Europas auslöschen werde!« sagte er mit vor Wut zitternder Stimme. »Ja, ich werde Sie hinter die Düna werfen, hinter den Dnjepr, und ich werde Ihnen Grenzen anweisen, welche zu verletzen Ihnen Europa nur in verbrecherischer Verblendung erlauben wird! Ja, das wird Ihr Lohn sein!« Schweigend ging er einige Male im Zimmer auf und ab. Er steckte die Tabaksdose in die Westentasche, zog sie wieder heraus und blieb vor Balaschew schweigend mit spöttischen Blicken stehen. »Und welches prächtige Reich hätte Ihr Kaiser haben können!«
Balaschew fühlte die Notwendigkeit, etwas zu erwidern, und sagte, vom russischen Standpunkt aus erscheinen die Dinge nicht in so düsterem Licht. Napoleon schwieg und hörte augenscheinlich nicht, was er sagte.
»Rußland erwartet von diesem Krieg das Beste«, schloß Balaschew. Napoleon zog wieder die Tabaksdose hervor, schnupfte und stieß zweimal mit dem Fuß auf den Fußboden. Die Tür öffnete sich, ein Kammerherr reichte mit höflichem Bückling dem Kaiser seinen Hut und Handschuhe, ein anderer brachte das Taschentuch. Ohne sie anzublicken, wandte sich Napoleon an Balaschew.
»Versichern Sie dem Kaiser Alexander«, sagte er, »meine Ergebenheit. Ich kenne ihn vollkommen und schätze seine bedeutenden Eigenschaften sehr hoch. Ich halte Sie nicht länger auf. General, Sie werden meinen Brief an den Kaiser erhalten.«
Napoleon ging rasch zur Tür. Aus dem Empfangszimmer stürzten alle vorwärts und eilten die Treppe hinab.
Balaschew wurde zur kaiserlichen Tafel gezogen. Der Brief an den Kaiser, den Balaschew erhielt; war der letzte Brief Napoleons an Alexander. Alle Einzelheiten des Gesprächs wurden dem russischen Kaiser mitgeteilt, und der Krieg begann.
138
Nach seinem Zusammentreffen mit Peter in Moskau fuhr Fürst Andree nach Petersburg, in Geschäften, wie er seinen Verwandten sagte, in Wirklichkeit aber, um dort den Fürsten Anatol Kuragin zu treffen, welchen er zu erschießen sich gedrungen fühlte. Kuragin, nach dem er sich bei seiner Ankunft in Petersburg sogleich erkundigt hatte, war nicht dort. Peter hatte seinem Schwager Nachricht gegeben, daß Fürst Andree ihn suche. Anatol erhielt sogleich eine Ernennung vom Kriegsminister und fuhr zur Armee in der Moldau. Zu derselben Zeit traf Fürst Andree in Petersburg seinen früheren General Kutusow, der ihm vorschlug, sogleich mit ihm zur Armee in der Moldau abzureisen, zu deren Oberkommandierenden der alte General ernannt worden war. Nachdem Fürst Andree dem Stab des Hauptquartiers zugezählt worden war, reiste er nach der Türkei ab. Fürst Andree hielt es für unnütz, an Kuragin zu schreiben und ihn herauszufordern. Solange Fürst Andree keinen neuen Anlaß zum Duell hatte, mußte eine Herausforderung seinerseits die Gräfin Rostow kompromittieren, und deshalb wollte er eine persönliche Begegnung mit Kuragin abwarten, um einen neuen Grund zum Duell zu erhalten. Aber auch bei der Armee in der Moldau fand er Kuragin nicht, da dieser bald nach der Ankunft des Fürsten Andree nach Rußland zurückgekehrt war. In dem neuen Lande und in einer neuen Lebensstellung wurde Fürst Andree das Leben leichter. Der Kriegsdienst war die geeignetste Tätigkeit für ihn. In der Stellung eines Adjutanten beim Stabe Kutusows nahm er sich mit Ausdauer und Eifer der Geschäfte an und setzte Kutusows durch seine Arbeitslust und Pünktlichkeit in Erstaunen. Nachdem er Kuragin in der Moldau nicht gefunden hatte, hielt er es nicht für notwendig, wieder nach Rußland hinter ihm her zu galoppieren. Er war überzeugt, ihn früher oder später zu finden, aber der Gedanke, daß die Beleidigung noch nicht gerächt war, vergiftete diese künstliche Ruhe, welche Fürst Andree bei seiner eifrigen und etwas ehrfürchtigen Tätigkeit äußerlich zeigte. Im Jahre 1812, als die Nachricht von dem bevorstehenden Krieg mit Napoleon nach Bukarest gelangte, bat Fürst Andree um Versetzung zur Westarmee. Kutusow, dem die eifrige Tätigkeit Bolkonskys ein Vorwurf wegen seiner Müßigkeit war, entließ ihn sehr gern und gab ihm eine Empfehlung an Barclay de Tolly. Ehe er zur Armee abfuhr, welche sich im Mai im Lager bei Drissa befand, machte Fürst Andree einen Besuch in Lysy Gory, das nahe an seinem Wege lag. Die letzten drei Jahre hatten Fürst Andree so viele Umwälzungen gebracht, er hatte so Verschiedenes empfunden und durchschaut und Ost und West bereist, daß er mit einer Art von Erstaunen wahrnahm, wie in Lysy Gory alles denselben Verlauf nahm wie früher. Wie in einem verzauberten, schlafenden Schloß fuhr er durch die Allee bis zum Herrenhaus. Es herrschte dieselbe Würde, Reinlichkeit und Stille in diesem Haus mit denselben Möbeln und Wänden und demselben Geruch und denselben eingeschüchterten Gesichtern. Auch die etwas gealterte Fürstin Marie war ebenso schüchtern, unschön und durch immerwährende moralische Leiden gedrückt. Mademoiselle Bourienne war dasselbe selbstzufriedene, kokette Mädchen, welches jede Minute des Lebens freudig genoß und voll fröhlicher Hoffnungen war. Sie schien Andree nur zuversichtlicher geworden zu sein. Der aus der Schweiz mitgebrachte Erzieher Desalles trug einen Rock von russischem Schnitt, sprach stotternd Russisch mit den Dienstleuten, war immer derselbe beschränkte, gebildete, tugendhafte und pedantische Erzieher. Die einzige Veränderung an dem alten Fürsten war, daß er einen Zahn verloren hatte. Sein Wesen war dasselbe wie früher, er war nur noch etwas zänkischer und verdrießlicher über das, was in der Welt vorging. Nur der kleine Nikolai war gewachsen und hatte sich verändert. Der rotwangige, lockenköpfige Knabe spielte heiter und vergnügt und zog die Oberlippe seines hübschen Mundes ebenso in die Höhe wie seine verstorbene Mutter. Er allein gehorchte nicht dem Gesetz der Unveränderlichkeit in diesem verzauberten Schloß. Aber wenn auch im Äußeren alles beim alten geblieben war, so hatten sich doch die inneren Beziehungen aller dieser Personen sehr verändert, seit Andree sie nicht gesehen hatte. Die Familie war in zwei einander fremde und feindliche Lager geteilt, welche sich nur während seiner Anwesenheit vertrugen. Zu dem einen Lager gehörte der alte Fürst, Mademoiselle Bourienne und der Architekt, zu dem anderen Fürstin Marie, Desalles, Nikolai und der ganze weibliche Anhang.
Während seiner Anwesenheit in Lysy Gory speisten die Bewohner miteinander, alle fühlten sich unbehaglich, und Fürst Andree nahm wahr, daß er ein Gast war, für welchen man Ausnahmen machte, und daß er alle durch seine Anwesenheit störte. Am ersten Tag war Fürst Andree schweigsam, und als der alte Fürst dies bemerkte, wurde er mürrisch und ging sogleich nach Tisch in sein Zimmer. Als Fürst Andree abends zu ihm kam und ihn aufzuheitern suchte, lenkte der alte Fürst unerwartet das Gespräch auf die Fürstin Marie, welche er wegen ihres Aberglaubens und ihrer Abneigung gegen Mademoiselle Bourienne tadelte, die nach seiner Meinung allein ihm wirklich ergeben war.
Der alte Fürst sagte, nur Marie sei schuld, daß er so krank sei, weil sie ihn absichtlich quäle und ärgere, und sie verderbe auch den kleinen Fürsten Nikolai durch Verwöhnung und dumme Reden. Der Alte wußte sehr gut, daß er seine Tochter quälte und ihr das Leben sehr schwer machte, aber er meinte, er könne nicht anders, und sie verdiene