"Dies Kind soll leben". Helene Holzman. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Helene Holzman
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783895619946
Скачать книгу
bange Frage wußte keiner eine Antwort.

      Wir suchten Zinghaus’ Wohnung. Sie lag in einer Siedlung von Arbeiterhäusern, kleinen Steinhäusern ohne Kanalisation und Wasserleitung, aber ziemlich neu und sauber. Wir trafen unsere Freunde nicht zu Hause. Frau Zinghaus’ Schwester führte uns herein. Es war nur für einen winzigen Tisch Platz. Man saß auf den Koffern. Wenn man uns nur in Ruhe läßt, sagte die alte Dame, dann werden wir uns an dieses ärmliche Leben gewöhnen. In allen war ein böses Vorgefühl.

      Auf dem Rückweg trafen wir Zinghausens.»Nach den neuen Verordnungen müßten Sie auch ins Ghetto. Lesen Sie den Anschlag am Tor des großen Häuserblocks. «Wir lasen:»Nichtjuden, die mit Juden verheiratet sind, und Halbjuden unterstehen den Judengesetzen und müssen ins Ghetto ziehen. Die Nichtbefolgung dieses Gesetzes zieht die schärfsten Strafen nach sich.«

      Wir hatten nicht mehr die Kraft, uns mit unseren Freunden aufzuhalten. Das Herz klopfte uns bis zum Halse. Es war auf einmal dämmrig und kühl geworden. Wir eilten fort. Grüße von einigen Vorübergehenden beachteten wir kaum. Wir liefen über den großen Platz, der in der Mitte des Ghettos liegt. Krähen flatterten hoch und setzten sich auf die hohen Bäume, die den Platz begrenzten.

      Also auch wir, auch wir gehören zu den Ausgestoßenen. Jetzt wissen wir es. Es gibt kein Entweichen. Wahrscheinlich wird dieses neue Gesetz schon heute auf Extrablättern in der Stadt bekanntgemacht werden. Wir hielten uns an den Händen, spähten nach neuen Anschlägen. In einem Gäßchen in der Altstadt trafen wir einen Bekannten.[34]»Sie müssen auch ins Ghetto«, sagte er.»Ich habe meine Frau und Kinder schon dorthin gebracht. Ich selbst unterstehe dem Gesetz nicht, denn ich habe mich schon in Vorahnung künftiger Konflikte vor Jahresfrist pro forma von meiner jüdischen Frau scheiden lassen. «Die Verordnung scheint also schon stadtbekannt zu sein.

      Als wir zu Hause ankamen, war es schon dunkel. Wir machten Licht und gingen durch unsere schöne Wohnung, die wir nun in wenigen Tagen verlassen sollten. Unsere kleinen Vorräte hatten wir schon verteilt. Wo sollten wir anfangen, was mitnehmen? Und vor allem: wer würde für Marie sorgen?

      Wir konnten uns auch am nächsten Tag nicht entschließen, etwas zu packen, für eine Wohnung zu sorgen. Geists, die bis zum letzten Tag in der Stadt bleiben wollten, konnten bei allem Mitgefühl ihre Freude nicht verhehlen.»Mit euch zusammen wird uns dort alles leichter sein. «In der Zeitung oder durch Anschläge war die verhängnisvolle Verordnung noch nicht bekanntgegeben. Wir ließen die Stunden ungenutzt, waren wie gelähmt.

      Am 14., einen Tag vor dem Schlußtermin, ging ich in die Stadtverwaltung zu einem mir bekannten höheren Beamten. Auf meine Frage, was tun, schwieg er. Ich werde es bei Jordan selbst versuchen. Im neu errichteten Stadtkommissariat saßen deutsche und litauische Beamte. Ich fragte mich durch die vielen Gänge, wollte auch hier erst noch mit einem Litauer sprechen. Niemand wisse genau in solchen Zweifelsfällen Bescheid, nur Jordan selbst könne sie entscheiden.

      Vor Jordans Zimmer stieß ich auf den Rechtsanwalt Stankevičius. Er warnte mich dringend, hereinzugehen. Eine Frage sei dort gleichbedeutend mit einer negativen Antwort. Bevor in der Stadt keine öffentliche Bekanntmachung erfolgt sei, solle ich nichts unternehmen. Ich solle nach Hause gehen und abwarten.

      In diesem Augenblick öffnete sich die Tür. Ein zierlicher Mensch mit auffallend kleinem Kopf, bleich, mit wäßrigen Augen, verkniffenem Munde kam heraus, ging, ohne uns zu beachten, vorbei. Es war Jordan.

      Ich fühlte mich einer großen Gefahr entronnen. Gretchen und ich beschlossen, wir werden auf jeden Fall hierbleiben, mag kommen, was will. Wir müssen in der Nähe von unserer Marie bleiben.

      Viktor kannte eine der Gefängniswärterinnen und vermittelte durch sie eine illegale Verbindung mit unserer Gefangenen. Wir schickten ein paar Äpfel, ein Butterbrot, Süßigkeiten und schickten und erhielten vor allem kleine Briefchen. Da auch die Beamten streng kontrolliert wurden, konnte das alles nur selten und mit großer Vorsicht geschehen. Diese spärlichen Nachrichten bildeten den Mittelpunkt unseres Lebens. Zwei dieser Zettelchen in winziger Schrift sind erhalten geblieben.[35]

      Ihr Lieben!

      Ich will ja gerne geduldig sein, wenn ich nur wüßte, ob und wann das ein Ende nehmen soll und wie dieses Ende wohl aussehen mag. Die Gefängnisadministration weiß nicht, wozu ich hier bin, ich auch nicht, und mein Untersuchungsrichter, der sich übrigens seit vier Wochen nicht mehr um mich gekümmert hat, weiß es sicher auch nicht. Ihm kommt es gar nicht darauf an, ob ich schuldig bin oder nicht, sondern daß ich schuldig bin. Mir ist keine Schuld gesagt worden, kein Urteil gefällt. Wenn es irgend geht, rüttele die Leute etwas auf, aber wenn Ihr nicht helfen könnt, so grämt Euch nicht zu sehr darüber, ich halte es schon aus hier, habe aber sehr Angst vor dem Winter. Wenn nicht die Donnerstage wären! Aber die wöchentlichen Zeichen, wie sehr Ihr an mich denkt, helfen mir, wenigstens äußerlich geduldig und stark zu sein. Daß auch Ihr es sehr schwer habt, beunruhigt mich sehr. Ich würde furchtbar gerne wissen, welcher Art diese Schwierigkeiten sind, ob Ihr mir nicht zu heldenhaft seid, ob Ihr Arbeit habt, satt seid. Hungert nur nicht, um mir schicken zu können: ich arbeite ja nicht. Über Brot, Butter und Äpfel freue ich mich am meisten. Über die Wurst und dergleichen auch, aber ich denke, Ihr solltet sie selber essen. Nach den Brotrationen zu urteilen, die immer kleiner, nasser und kartoffeldurchmengter werden, ist alles auch bei Euch knapp. Zucker sollt Ihr nie schicken. Die laue, graue Brühe, die wir am Morgen bekommen, ist keinen Zucker wert. Die Suppen zu Mittag und Abendbrot sind aber gut warm und durchaus eßbar, vor allem, wenn Kartoffeln drin sind. Ich freue mich sehr, eine Handarbeit von Euch zu bekommen. Ich glaube, ich werde in der nächsten Woche Gretel eine Schürze schicken können. Der Gedanke daran erfüllt mich mit großer Freude, denn es ist sehr schwer, und Stoff- und Fadenbeschaffung dauerte Wochen. Da ich ohne Kenntnisse der Zuschneide- und Nähkunst bin, müßt Ihr über die Mängel eben hinwegsehen. Das Sticken macht mir besonders Freude und der Gedanke, Euch ein Zeichen meiner großen Liebe und Sehnsucht zu schicken. Versucht doch öfters mal, wenigstens mit einem Gruß den Weg durch Viktor zu benutzen. Im Laufe dieses Monats oder Anfang des nächsten wird meine Kammergenossin wohl frei und besucht Euch. Wenn Ihr den Zettel gefunden habt, näht ein rotes Kreuzchen auf irgendein Kleidungsstück und schickt Donnerstag. Ich liebe Euch unsäglich.

      Marie

      Schickt ein Spiegelchen.

      Der zweite Zettel ist auf der einen Seite litauisch an Viktor geschrieben.

      Lieber Viktor,

      bitte seien Sie so gut und geben Sie meiner Schwester das Geburtstagsgeschenk. Sagen Sie ihr und Mama, daß ich große Sehnsucht nach ihnen habe, aber ich verspreche, stark und geduldig zu sein. Trösten Sie sie, daß sie meinetwegen nicht zu sehr leiden. Ihre wöchentliche Donnerstagssendung ist jedesmal für mich wie Weihnachten. Es würde schön sein, wenn ich durch die Gefängnisverwaltung zehn Mark geschickt bekommen könnte, damit ich mir wenigstens das Nötigste kaufen könnte. Ich denke oft an Sie. Es ist doch gut, Freunde jenseits des Gitters zu haben.

      Ihre Maryte.

      Der Brief auf der andern Seite ist für mein Schwesterchen.

      Liebes, liebes Gretelchen,

      das Hemdchen und Leibchen mußt Du schon als eine Art vorzeitiges Weihnachts- und Geburtstagsgeschenk ansehen. Wenn Du wüßtest, mit welchen Schwierigkeiten und Gefahren es zustande gekommen ist, würdest Du über ihre vielen Mängel etwas hinwegsehen. Dafür mußt Du mir versprechen, aufzupassen, daß Mutter keine Weintrauben und keinen Zucker schickt, und von allem andern nur so viel, daß Ihr vorher wirklich satt seid. Ich muß ja heulen, wenn ich esse und denke, Ihr Pelikane[36] zu Hause arbeitet Euch hungrig für mich ab, und ich esse und arbeite nichts. Dafür würde ich mich sehr über Stoff (eventuell schon zugeschnitten als Nachthemd, Schürze oder Blüschen für Dich) freuen, und wenn Ihr, falls Ihr habt, bunte Garne zum Sticken schicktet oder irgendeine Handarbeit. Wenn die Patiencekarten die Sperre passierten, dürfte ich sie sicher behalten. Sage Mutter, daß ich die siebente Woche seit dem letzten auch völlig ergebnislosen Verhör bin, ohne Urteil und ohne daß sich seitdem jemand um mich gekümmert hat. Vielleicht kann sie die Leute etwas


<p>34</p>

Wahrscheinlich Franz Vocelka, von dem noch die Rede sein wird. Er hat seine Frau später wieder aus dem Ghetto geholt.

<p>35</p>

Helene Holzman hat die folgenden beiden Briefe Maries in ihren Aufzeichnungen abgeschrieben. Die Originale sind nicht erhalten.

<p>36</p>

Über den Pelikan hieß es schon in der Antike, er würde sich die Brust aufreißen, um mit dem eigenen Blut seine Kinder zu ernähren.