"Dies Kind soll leben". Helene Holzman. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Helene Holzman
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783895619946
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gezogen und jetzt von neuem erkrankt und bettlägerig geworden. Sie bewohnte ein besonderes Zimmer, das ich vorher nicht bemerkt hatte.

      Zwischen Gretchen und ihr wurde das frühere herzliche Verhältnis sogleich wieder hergestellt. Sie trafen sich in gemeinsamer Sorge um eine gute Freundin, die mit ihrer Familie nach dem Innern Rußlands umgesiedelt worden war.[37] Welches Glück, sagten sich beide, daß Beka nicht hier ist. Dort wird sie als freier Mensch leben und muß nicht die Leiden des Ghettos ertragen.

      Für die Nacht bot man uns ein Sofa. Gretchen schlief sofort ein. Sie fühlte sich durch das überraschende Wiedersehen mit Ludmilla in der Abseitigkeit unseres Unterschlupfes geborgen und atmete warm und ruhig an meiner Seite. Ich grübelte lange, was wir nun weiter tun sollen. Am besten erst mal ein paar Tage vergehen lassen. Hier wird man uns nicht finden.

      Es vergingen viele Tage des Wartens, ohne daß wir zu einem Entschluß kamen. Die beiden Nataschas waren gütig und hilfsbereit, aber sehr verschlossen. Erst allmählich bekam ich heraus, daß die eine Schneiderin war und in einem Trust arbeitete. Die andere besorgte den Haushalt und die kranke Ludmilla. Sie hielten ganz unregelmäßige Mahlzeiten, standen einmal ganz früh, ein andermal spät auf und gingen ebenso unregelmäßig schlafen. Der Zuschnitt ihres Lebens war in jeder Beziehung verschieden von unserem.

      Wir hatten unseren elektrischen Kocher und Lebensmittel mitgebracht und kochten für uns. Wir wollten so wenig wie möglich stören. Gretchen ging nach wie vor in ihr Büro. Dort ahnte keiner etwas von ihrem Doppelleben. Sie ging mit ihren Arbeitskollegen nach Hause, verabschiedete sich an der Straße unserer Wohnung, wartete dort ein wenig in einem Treppenhaus, bis die andern außer Sicht waren, und eilte dann in unser Versteck.

      Ich hatte mit unserer Hauswirtin ausgemacht, daß ich jedesmal erst anrufen würde, bevor ich in unsere Wohnung käme. Wir verabredeten einen Code, nach dem sie mir mitteilen sollte, ob man nach uns gesucht habe. Ich rief jeden Tag von einer Postfiliale auf dem Berge an. Da sich nichts ereignete, beruhigten wir uns allmählich, gingen öfter in unsere Wohnung, vor allem um unsere Donnerstagssendungen vorzubereiten. Während wir für unsere Marie einen kleinen Kuchen buken, schauten wir ständig aus dem Fenster. Wenn es klingelte, hielten wir uns mäuschenstill.

      Algirdas mahnte uns dringend, die Stadt zu verlassen. Er bot sich an, bei einer Flucht behilflich zu sein. Er kannte Leute, die öfter nach Deutschland hereinfuhren und uns mit falschen Papieren mitnehmen könnten. Oder wir sollten nach Wilna gehen. In der größeren Stadt, in der wir nicht so bekannt waren, könnten wir uns leichter verbergen. Ich sagte zu jedem Vorschlag ja, traf alle Vorbereitungen und konnte mich doch nicht entschließen. Solange wir unsere Marie nicht bei uns haben, können wir nicht von hier fort.[38]

      Vielleicht war es besser, in der Nähe der Stadt auf dem Lande eine Wohnung zu suchen. Wir erinnerten uns an den holländischen Gärtner Stoffel, der sieben Kilometer vor der Stadt seine Gärtnerei hatte. Wir kannten ihn nicht sehr gut, aber seine vornehme Erscheinung und seine ruhige, reservierte Art gaben uns solches Vertrauen, daß wir ihm gleich unsere Nöte unterbreite-ten und um Rat und Hilfe baten. Er selbst könne uns nicht aufnehmen, er wollte aber mit seinen Nachbarn sprechen.

      Nach einigen Tagen kamen wir wieder heraus, gingen zusammen zu einigen Gehöften der Umgegend. Die Bauern waren bereit, uns gegen einen annehmbaren Mietpreis aufzunehmen. Holz und Lebensmittel waren hier leichter zu bekommen als in der Stadt. Ein neugebautes Haus gefiel uns besonders. Der Bauer versprach, unsere Möbel mit seinen Pferden abzuholen. Seine Frau erwarte bald ein Kind, da sei es auch ihm angenehmer, wenn noch jemand im Hause sei. So vernünftig alles aussah – auch dieser Plan blieb unausgeführt.

      Einige Tage später kam Herr Stoffel, dem wir unser Versteck bei den Nataschas verraten hatten, zu uns. Der Rechtsanwalt Baumgärtel, den er gesprochen habe, sei außer sich, daß wir uns noch in der Stadt befänden. Es bestehe hohe Gefahr für uns. Wir sollten uns schnell zur Flucht entschließen.

      Je mehr die Umstände zu einer Entscheidung drängten, desto unmöglicher erschien sie mir. Aber auch länger bei den holden Nataschas zu bleiben ging nicht an. Den Nachbarn fiel bereits unser langer Aufenthalt dort auf. Wenn Besuch kam, schlossen wir uns in einem Zimmer ein und regten uns nicht. Wir zeigten uns nie in den Verkehrsstraßen der Stadt, blieben meistens auf dem Grünen Berge. Aber auch hier oben war es unruhig. Täglich wurden auf der Straße und in den Häusern Verhaftungen vorgenommen. Man fing Menschen zu irgendwelchen Arbeiten, verhaftete Kommunisten, bestrafte Spekulanten.

      Die Lebensmittelnormen, die auf Karten gewährt wurden, waren ungenügend. Der freie Verkauf war verboten. Aber die Litauer ließen sich nicht so leicht einschrecken.[39] Der Handel auf dem Schwarzmarkt blühte, die Preise stiegen. Wenn die Polizei auf dem Markte eine Razzia gemacht hatte, die Händler teils verhaftet, teils vertrieben hatte, so erschienen sie fünf Minuten hinterher wieder, und der Handel ging vergnügt weiter.

      Es zeigte sich, daß die litauische Bevölkerung für dunkle Geschäfte, Umgehung der Gesetze, erbarmungslosen Wucher mit lebenswichtigen Waren ganz vorzüglich begabt war. Ganz mit Unrecht hatte sie behauptet, daß nur die Juden diese Fähigkeiten hätten, denn auch die geriebensten jüdischen Geschäftemacher halten sich im Prinzip an die Regel» Leben und leben lassen «und sind immer bemüht, einen Mittelweg zu finden, der beide Teile befriedigt. Aber auch jetzt noch, wo die Juden aus dem Wirtschaftsleben ausgeschaltet waren, wollte man ihnen ganz unlogischerweise an allen Mängeln die Schuld geben. Das Volk war nur zu gern bereit, auf die Propaganda der Deutschen hereinzufallen, die mit der antisemitischen Hetze die Aufmerksamkeit von ihrer eignen barbarischen Ausbeutung von Land und Leuten ablenkten.

      Diese Ausbeutung, die gleich nach dem deutschen Einmarsch eingesetzt hatte, mußte von langer Hand vorbereitet gewesen sein. Das reiche, wohlbestellte Bauernland war ein fetter Bissen, von dem man sich nichts abgehen lassen wollte. Die hohen Abgaben der Landprodukte wurden teils nach Deutschland geschickt, teils zur Heeresversorgung verwendet.»Für unsere Erhaltung müssen die von uns eroberten Länder sorgen«, rühmten[40] stolz die Soldaten. Sie befanden sich damals alle im Taumel der unentwegt Siegenden, die es nicht nötig hatten und keinen Wert darauf legten, beliebt zu sein. Unter den älteren Offizieren gab es allerdings damals schon manche, die dieses rücksichtslose Vorgehen gegen die Zivilbevölkerung bedenklich fanden. Sie sahen schon voraus, daß es schlecht enden muß, sich überall Feinde zu machen.

      Auf dem Savanoriu-Prospekt kamen lange Züge von Gefangenen. Sie wurden vor Wagen gespannt, um Pferde zu sparen. Sie trugen Holzbalken, mußten zu Fuß von einer Stadt zur anderen ohne Schuhwerk gehen. Die Stiefel hatte man ihnen abgenommen. Sie waren matt und abgezehrt. Obgleich es streng verboten war, den Gefangenen irgend etwas zu geben, wurde es allgemein üblich, ihnen Lebensmittel und Zigaretten zuzustecken. Besonders die russischen Bürger waren bemüht, soviel sie konnten zu helfen. Wir trugen in unserer Handtasche immer Äpfel, getrocknetes Brot, Zigaretten mit uns, um keine Gelegenheit ungenützt zu lassen. Die deutschen Wachen waren oft so perplex über die Dreistigkeit, mit der hier ein strenges Verbot überschritten wurde, daß sie nicht die Geistesgegenwart hatten, es zu verhindern. Andere taten bewußt, als ob sie es nicht bemerkten. Aber es gab auch oft Raufereien und Verhaftungen.

      Ich sah einmal einen langsam schreitenden Zug Gefangener. Einer von ihnen fiel vor Erschöpfung zur Erde. Der Wachtposten, ein derber, roher Bursche, schrie ihn an, er solle aufstehen. Der Gefallene rührte sich nicht. Anscheinend war er ohnmächtig. Da überfiel den Deutschen eine solche Wut, daß er auf den Ärmsten heraufsprang, mit seinen schweren Stiefeln auf ihm herumtrampelte und dabei brüllte:»Auf, du Schwein! Wer gewinnt hier den Krieg? Nicht ihr, sondern wir! Wer gewinnt hier den Krieg, wer gewinnt den Krieg?«

      Der Anblick solcher Roheit war entsetzlich. Es bildete sich sofort eine Menschenmenge. Eine Frau versuchte, den Soldaten fortzustoßen. Polizei mischte sich darunter. Man fragte [die Frau] nach ihrem Ausweis. Sie steckte ihnen mit einer kühnen Bewegung ihren Paß unter die Nase. Die und die bin ich, verhaftet mich, wenn ihr wollt, aber nie werde ich solche Niedertracht dulden. Sie ging mit den Polizisten. Ich sah, wie man sie dann freiließ. Wahrscheinlich waren auch die litauischen Polizeibeamten mit der Frau einer Meinung über diese Schandtat. Die russischen


<p>37</p>

Gretes und Ludmillas Freundin Bella Feigelowitsch, genannt» Beka«, war mit ihrer Familie am Ende des Sowjetjahres nach Sibirien deportiert worden.

<p>38</p>

Zusatz am Seitenrand: Zur Flucht brauchten wir vor allem Geld. Wir verkauften Bettwäsche, Bücher, Kleidungsstücke, Eßgeschirr sehr billig. Es hatte sowieso keinen Wert mehr für uns.

<p>39</p>

Im Sinne von» einschüchtern«.

<p>40</p>

Im Sinne von» prahlten«.