"Dies Kind soll leben". Helene Holzman. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Helene Holzman
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783895619946
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gestanden angetrunkene Gestapisten, daß man sie auf einem Fort erschossen hat. Sie brauchten Anzüge und Wäsche, war die zynische Begründung. Das war die erste große Vernichtungsaktion.[44] Im Ghetto glaubte man noch lange, daß sie zurückkommen würden, bis man allmählich begriff, daß keine Hoffnung mehr war.

      Der Terror hielt an. Ende August erging der Befehl, alles Geld bis auf 10 Reichsmark, die pro Kopf erlaubt wurden, abzugeben, außerdem alle Wertgegenstände, Gold, Silber und Juwelen, alle elektrischen Geräte, alle Pelze. Viele machten den Versuch, einen Teil ihrer Schätze zu verstecken. Die meisten wurden dadurch eingeschreckt, daß man circa 20 Personen sofort erschoß, weil sie Sachen versteckt hatten. Deutsche Polizei und litauische Partisanen durchsuchten Haus für Haus, Höfe und Schuppen. In jedes Haus kamen sie mehrere Male, durchwühlten alles und plünderten dabei nach Herzenslust. Manchen war es dennoch gelungen, etwas in Eile zu vergraben oder anderswie vor den Räubern zu verbergen, aber viele gaben vorbehaltlos alles, was gefordert wurde, und verblieben völlig mittellos.

      Die Verteilung von Lebensmitteln erfolgte in staatlichen Läden, wie für die Stadtbevölkerung, nur daß die Rationen viel geringer waren. Um täglich 200 Gramm Brot zu bekommen, mußte man lange anstehen. Butter, Fett und Fleisch gab es überhaupt nicht. Wer in der Stadt arbeitete, brachte Gemüse, Kartoffeln mit. Auf dem Wege von und zu den Arbeitsstätten kaufte man auf den Märkten. Auch auf den Arbeitsstätten, den Höfen der Fabriken, Baustellen, Behörden entwickelte sich schnell ein schwunghafter Tauschhandel. Da man in der Stadt alle wertvolleren Waren beschlagnahmt hatte, war große Nachfrage, besonders nach Kleidungsstücken. Manche Juden hatten noch viel. Die nichts hatten verdienten am Zwischenhandel. Diese Geschäfte und jegliche andere Beziehung zu den Juden waren natürlich verboten. Es gab aber viele Posten, besonders unter den deutschen Soldaten, die durch die Finger sahen. Trotzdem war dieser Handel eine ernste Gefahr für beide Teile. Viele Litauer wurden dabei verhaftet, manche saßen wochenlang im Gefängnis. Ein Bürger, der sich erdreistet hatte, einem Juden auf der Straße die Hand zu geben, wurde dafür mit einer Woche Gefängnis bestraft, sein Name als abschrekkendes Beispiel in der Zeitung genannt.

      Jordan ertappte auf dem Markte der Altstadt einen Juden, der vier Bauernwagen voll Gemüse eingekauft hatte, um sie ans Ghetto fahren zu lassen, wo man die Ware durch den Drahtzaun hineinschmuggeln wollte. Jordan zog seinen Revolver und erschoß den Käufer vor den Augen aller Umstehenden. Das Gemüse wurde an die umstehenden Weiber verteilt, die sich, anstatt sich über die Missetat zu empören, zufrieden mit den ihnen unerwartet zuteil gewordenen Kohlköpfen und Möhren davonmachten. Noch Wochen später hörte ich eine sich rühmen, wieviel sie damals von der Beute abbekommen habe.

      Auch am Drahtzaun wurden Geschäfte gemacht. Die Bauern kamen mit ihren Fuhren über die Landstraße, die am Ghetto vorbeiführte. Die Posten wurden bestochen, häufig beteiligten sie sich mit an den Geschäften. Große Möbelstücke, Sofas, Nähmaschinen wurden so direkt gegen Fett, Butter, Fleisch eingetauscht. Auf den anliegenden Friedhof kam ein Weiblein mit einem Kinderwagen. Sie verneigte sich murmelnd, als ob sie den Rosenkranz spräche, aber statt frommer Gebete ertönte die Anpreisung ihrer Waren:»Habe Butter, habe Speck, Gänse, Hühner. «Die Juden brachten Stoffe, Wäsche, und hurtig wurden die Produkte aus dem Kinderwagen durch den Stacheldraht lanciert.

      Die litauischen Spekulanten nützten die Notlage der Juden weidlich aus und schlugen zu den Schwarzmarktpreisen immer noch auf. Sie mischten sich oft mit großer Dreistigkeit und ohne den geringsten Respekt vor den deutschen Gesetzen in die Brigaden, wo sie ihre Produkte mit Sicherheit zu guten Preisen umsetzen konnten. Wurde einer gelegentlich gefaßt und abgeurteilt, so fand er das auch» halb so schlimm«, saß seine paar Wochen ab und spekulierte hinterher munter weiter. Für die Juden dagegen bedeutete jede Gesetzesübertretung Todesgefahr. Der Kauf einer Zeitung an einem Kiosk, ein Händedruck auf der Straße mit einem vorübergehenden Bekannten, das Überhören des Anrufs eines Postens kostete viele das Leben. Dennoch war auch bei ihnen der Optimismus, der Glaube an das Leben so groß, daß sie auch in ihrer verzweiflungsvollen Lage um die kleinen Freuden des Genusses kämpften und unermüdlich und erfindungsreich die Wege dazu fanden. In den ersten Monaten dachten sie allerdings noch nicht daran, diese Wege einzufahren. Es war mühsam und bitter genug, sich in die neue Lage zu finden und sich Tag für Tag notdürftig zu erhalten.

      Wir hielten uns schon die zweite Woche bei den Nataschas versteckt, ohne daß sich unsere Lage klärte. Wir gingen fast täglich in unsere Wohnung – nie ohne uns vorher telefonisch bei unseren Hauswirten zu versichern, daß alles in Ordnung sei. Die ganze Woche bereiteten wir unsere Donnerstagssendung vor, buken Weißbrot, kochten Marmelade, gingen aufs Land, um Eier und Milch zu erstehen. Und jedesmal das bange Warten und schließlich Erleichterung, wenn endlich alles abgegeben war und wir ihre Unterschrift in der Hand hielten.

      Wir schickten jedesmal auch Leibwäsche, ein Handtuch und andere Kleinigkeiten mit: Bleistifte, ein Spiel, eine Handarbeit. Aber die Kontrolle wies vieles als»überflüssig «zurück. So angstvoll wir sonst auf der Straße gingen, in der Furcht vor plötzlicher Verhaftung – auf dem Gefängnishof fühlte ich mich unter den vielen Leidensgenossen sicher. Gerade hier, schien mir, würde mir nichts geschehen. Eine junge Frau sorgte für ihre Schwester, die mit Marie zusammen in einer Zelle saß. Wir wußten, daß die beiden Leidensgefährtinnen schwesterlich teilten, was wir ihnen brachten.

      Als wir einmal in unserer Wohnung waren, wurde heftig geklingelt. Wir öffneten nicht, hielten uns mäuschenstill. Nach einer Viertelstunde kam unser Wirt.[45] Soeben sei ein Polizeibeamter bei ihnen gewesen, um sich nach uns zu erkundigen. Er habe sich unsere Personalien aus dem Hausbuch und nach den Aussagen des Wirtes eingehend notiert und dem Wirt strenges Schweigen uns gegenüber über seine Erkundigungen auferlegt. Mein Hauswirt hatte nichts Eiligeres zu tun, als das Verbot zu brechen. Er riet uns, unsere Wohnung einige Tage zu meiden. Wir schlichen in unser Versteck zurück.

      Der Savanoriu-Prospekt lag so weit, so breit vor uns. Die Menschen gingen ruhig, gleichgültig. Wir schauten uns ängstlich um. Niemand ging uns nach. Trupps von Soldaten zogen in der Mitte der Straße. Sie sangen laut mit blechernen Stimmen von der kleinen Ursula und neue ausdruckslose Marschlieder. Es war keine Freude, kein Gefühl in ihrem Gesang.

      Die lieblichen Nataschas beruhigten uns. Wir könnten bei ihnen bleiben, solange wir wollten. Sie wollten uns nicht merken lassen, welche Opfer sie mit unserer Beherbergung brachten. Sie hatten Besuch bekommen, und es fehlte an Raum und Lagern. Wir gaben unser Sofa ab und schliefen auf einem Schafpelz auf der Erde. Gretchen, die müde war von der ungewohnten Arbeit im Büro, schlief fest die ganze Nacht. Ich lag neben ihr wach und grübelte nach einem Ausweg für uns. Wenn wir nur erst unsere Marie bei uns hätten, würden wir zu dritt irgendwohin fliehen.

      In unsere Wohnung war kein verdächtiger Besuch mehr gekommen. Wir gingen wieder hin und blieben dort. Nur manchmal, wenn uns abends Angst überfiel, daß man uns diese Nacht suchen werde, flüchteten wir zu unseren Wohltäterinnen, die uns immer freundlich aufnahmen. Ludmilla lag immer noch krank im Bett. Die klinischen Untersuchungen waren nicht gut ausgefallen. Zur nötigen Kur fehlten die Mittel. Sie selbst und die beiden Freundinnen trugen diese schwerste Sorge wie ihre vielen kleinen mit der heiteren Geduld frommer Menschen. Wir hatten uns allmählich über die Schwierigkeit der fremden Sprache hinweg angefreundet, und ihre immer gleich bleibende Hilfsbereitschaft und Sanftheit beruhigte uns tief. Als wir gingen, hatten wir das beruhigende Gefühl, jederzeit wiederkommen zu können, wenn es nötig werden sollte.

      Es wurde Herbst. Wird unsere Arme, unsere Liebste nicht frieren in den kalten Gefängnismauern? Ich schickte ihr eine wattierte Jacke, warme Strümpfe und Schuhe. In den Strumpfspitzen schickten wir ihr kleine Briefchen. Nach einer Woche bekamen wir die getragenen Strümpfe mit gefüllten Spitzen zurück. Trostworte, Zärtlichkeiten, vorsichtige Andeutungen, nichts Verfängliches für den Fall, daß die geheime Post einmal entdeckt werden sollte. Wir schickten graues Leinen und viel buntes Stickgarn, damit sie sich mit einer Handarbeit zerstreut.

      An den Donnerstagen stand man nicht mehr in dem weiten Hof, sondern in einer geordneten Reihe vor dem Gefängnistor. Es wurde schon kalt und die Abende lang. Einmal kam eine Frau. Sie sei soeben aus dem Gefängnis entlassen worden und habe Marie versprochen, daß ihr erster Weg zu uns sei, um ihre Grüße zu bringen. Die Zellen


<p>44</p>

Die sogenannte» Intellektuellen-Aktion«. Die Erschießungen wurden im IV. Fort ausgeführt. Die Zahl 534 wird in vielen Berichten genannt. Nach dem sog.»Jäger-Bericht «vom 1. Dezember 1941 fielen dieser Aktion sogar 711 Juden zum Opfer.

<p>45</p>

Marijonas Senkus