"Dies Kind soll leben". Helene Holzman. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Helene Holzman
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783895619946
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die nichts versprachen. Ob Moschinskis vielleicht mehr erreicht? Man kennt ihn überall, und er hat eine so überzeugende Art zu sprechen. Algis wohnte in Panemune, gute anderthalb Stunden von der Stadt entfernt. Ich ging die staubige Landstraße in der glühend heißen Sonne, ging und ging. Trupps deutscher Soldaten laut singend, nein, grölend von der» kleinen Ursula«. Sind diese Horden wirklich meine Landsleute?

      Algis war nicht zu Hause. Seine schöne Frau saß groß und ruhig vor dem Hause mit ihren blühenden Kindern. Was wißt ihr von meinen Sorgen? dachte ich. Aber das friedliche Bild war eine Täuschung. Frau Moschinskis erzählte, daß ihr jüngster Bruder als Mitglied der kommunistischen Jugendvereinigung von Partisanen gemordet wurde. Ihre Eltern hielten sich bei ihnen versteckt. Ihr Vater, Arzt in einer Provinzstadt, war als Freund der Sowjets bekannt und wagte es vorläufig nicht, in seine Praxis zurückzukehren.

      Da kam Algis mit nacktem Oberkörper, sonnenverbrannt, von seiner Wiese, die er gemäht hatte. Er versprach, am nächsten Morgen mit dem Rade in die Stadt zu kommen, um mit mir noch einmal in die Behörde zu gehen.»Nichts unversucht lassen, bis wir Erfolg haben«, tröstete er mich.

      Ich lehnte ihre Einladung, zu bleiben und mit ihnen zu essen, ab, wollte so schnell wie möglich wieder bei den Kindern sein. Der Rückweg noch ermüdender, glühende Sonne, Staub und viele Soldaten. Am Straßenrand eine Pumpe. Ich trank das kalte Wasser. Mir schwindelte, ich hielt mich an einem Zaun, sah die Soldaten durch einen weißen Schleier, hörte deutsche Worte, sah deutsche Gesichter, so fremd, so fremd…

      Am nächsten Tage trafen wir uns, liefen, sprachen, baten, ohne eine klare Auskunft zu erhalten. In der Stadt hatten sich schreckliche Szenen abgespielt. Auf der Bahnhofstraße war es auf dem Hof einer Autogarage zu einer regelrechten Schlacht der Partisanen gegen etwa… Juden gekommen, wobei die Juden, die ohne Waffen waren, sämtlich umgebracht wurden.[23] Eine riesige Menschenmenge hatte sich versammelt, um dem entsetzlichen Schauspiel zuzusehen und die blinde Wut der Mörder mit ermunternden Zurufen zu schüren. Es gab auch Stimmen, die ihrer Empörung über diese Bestialität Luft machten.»Eine Schande für Litauen!«wagten Mutige zu sagen, wurden aber sofort zum Schweigen gebracht. Von allen Seiten drangen die Schrekkensnachrichten zu uns.

      Die Kinder und ich wagten nicht, miteinander davon zu sprechen. Da stand die Glasschale mit den Erdbeeren, die wir zu Vaters Empfang bereitet hatten. Sie waren längst verfault, keiner räumte sie fort.

      Ich ging wieder einmal in die Sicherheitspolizei. Man erinnerte sich meines vorigen Besuchs und gab mir eine Liste der jüdischen Insassen des Gefängnisses zur Durchsicht.»Wenn Sie ihn darunter finden, werden wir ihn sofort entlassen. «Sein Name war nicht darunter.

      Ich ging langsam in der heißen Mittagssonne nach Hause. Er ist nicht mehr da, sagte ich immer wieder vor mich hin. Wie soll ich das den Kindern sagen? – Ich brauchte ihnen nichts zu sagen. Sie verstanden und schwiegen. Ich warf die alten Erdbeeren fort, kochte etwas zu Mittag wie alle Tage…

      Vielleicht ist er auf dem VII. Fort? Dort hatte sich das Archiv wertvoller historischer Dokumente und Bücher befunden. Andern soll es gelungen sein, ihre Angehörigen dort zu sprechen. Gegen Abend stand ich vor dem Gitter des VII. Fort. Ich sprach mit der Wache, versprach hohe Bestechung. Gut, er wird suchen. Ich wartete, wartete. Schließlich erschien er wieder.»Nein, einen Max Holzman gibt es hier nicht.«

      Ganz nahe beim Fort gab es einen kleinen Laden. Die Inhaberin, Wanda, ein wunderhübsches junges Mädchen, war im ganzen Stadtviertel eine populäre Erscheinung. Ihre kleine Bude war immer voller Menschen. Sie war nicht nur sehr geschäftstüchtig und verstand, mit jedem umzugehen, sondern hatte auch ein warmes Herz und einen klaren Verstand.

      Dorthin kamen auch die Partisanen vom VII. Fort, um Zigaretten zu kaufen und mit Wanda zu scherzen. Wanda erfaßte sofort meine Lage und vermittelte mit ihnen. Die Partisanen versprachen, meinen Mann [zu] suchen und ihn frei[zu]lassen. Aber man fand ihn nicht.»Das hättet ihr uns früher sagen müssen«, meinte einer,»jetzt sind schon viele nicht mehr da.«—»Nicht mehr da?«fragte ich.»Wo sind sie denn jetzt?«Er gab keine Antwort.

      Ich ging noch oft die breite Pappelallee zu Wanda, auf der man Hunderte von Juden getrieben hatte, von denen die meisten» nicht mehr da «waren. Darunter war einer, das war Max Holzman, das war mein Mann.

      Oder war er vielleicht gar nicht hierher gekommen? Viele Juden waren irgendwohin in die Provinz zur Arbeit geschickt worden. Vielleicht lebt er und kommt wieder. Wenn er nur erst wieder bei uns ist. Wenn wir nur erst wieder vereint sind, dann sollen uns alle Leiden leicht werden…

      Jeden Tag neue Schrecken, neues Entsetzen. Ein Anschlag mit riesengroßen Lettern in der ganzen Stadt. Alle Juden müssen auf der linken Brust einen gelben Stern tragen. Sie dürfen nicht auf dem Fußsteig gehen, sondern daneben, auf der rechten Seite der Straße, und zwar einzeln hintereinander. Es werden besondere Lebensmittelkarten für Juden ausgegeben und besondere Geschäfte eingerichtet. Sie bekommen weniger Brot, keinen Zucker, weniger Fett und Fleisch als die andern.

      Die beiden alten Zinghausens, die nun ganz ohne Wohnung und Sachen waren, hatten einige Tage bei uns gewohnt.»Wir sind von einem Tag zum andern zu Bettlern geworden«, sagte die alte Dame. Sie sagte es mit Ruhe und sanfter Ergebenheit in das Schicksal, das auf so unbegreifliche Weise über sie hereingebrochen, einer Ergebenheit, die die Juden so unendlich leidensfähig machte. Und diese Stärke war den anderen wieder so unverständlich, daß sie ihr mit neuem Mißtrauen begegneten.

      Sie waren dann, die beiden würdigen Freunde, zu ihren Verwandten in die Altstadt gezogen. Wir besuchten sie oft und brachten ihnen Brot oder Gemüse aus dem Garten. Sie hatten noch einige Versuche gemacht, wenigstens etwas von ihren Kleidungsstücken zurückzubekommen. In einer von einer Militärperson verwalteten Sammelstelle von jüdischem Besitztum erblickten sie einen Teil ihrer früheren Habe. Man war dort, wie man es zum Teil auch in Deutschland gewesen war, von eisig korrekter Höflichkeit und ließ sich schließlich herbei, den beiden je einen alten Mantel und etwas Bettzeug zu geben – schadhaftes, beileibe nichts von dem besseren. Leibwäsche wurde verweigert.

      Mitte Juli wieder große Anschläge: Alle Juden der Stadt sollen binnen einem Monat nach Vilijampole ziehen, wo sie in einem Ghetto, abgetrennt von der übrigen Bevölkerung, konzentriert werden sollen.[24] Vilijampole liegt nördlich der Stadt, jenseits der Vilija, eine arme Vorstadt, vorwiegend mit alten Holzhäusern ohne Kanalisation und Wasserleitung. Die Juden können ihre Häuser und Wohnungen gegen solche in Vilijampole tauschen. Verkauf von Häusern, Möbeln, Wertsachen ist ihnen verboten.

      In Kaunas hatten sich ungefähr 45000 Juden befunden. Etwa 7000 mögen vor dem Einbruch der Deutschen geflohen sein. 38000, etwa ein Viertel der Bevölkerung der Stadt, sollten in einem Monat umgesiedelt werden.[25] Das zur Verfügung gestellte Areal war so klein, daß auf eine Person nur zwei Quadratmeter Wohnraum kamen. Die meisten Juden ließen den größten Teil ihrer Habe in ihren Wohnungen zurück. Viele versuchten noch möglichst viel zu verkaufen, von den Käufern, die sich die Notlage zunutze machten und die Preise drückten, weidlich ausgenutzt. Viele vermachten alles ihren Dienstboten, die dafür für Lebensmittel zu sorgen versprachen.

      Das Stadtbild stand die folgenden Wochen unter dem Zeichen der Umzugswagen, die die Straßen füllten. Die Preise der Fuhren stiegen horrend. Sie fuhren hochbepackt mit dem nötigsten Hausrat, mit Brennholz und oft mit der ganzen Familie. Man sah Kranke, Mütter mit Säuglingen zwischen ihre Habe gepfercht. Die Gesunden gingen zu Fuß daneben. Das Wetter war herrlich. Seit dem deutschen Einzug ein sonniger Tag nach dem andern. Es war wie ein Hohn auf das Leid, das die Sonne beschien.

      Man hatte eine Wohnungskommission gebildet, die für gerechte Verteilung sorgen sollte. Es gab nämlich neben den vielen ärmlichen Hütten einige große Häuserblocks mit neuen, modernen Wohnungen, auf die ein großer Ansturm war und deren Inhaber von den andern beneidet wurden. Bald sollte sich zeigen, daß es kein Gewinn war, eine solche Wohnung zu besitzen, und [daß] diejenigen, die sich mit möglichst bescheidenen begnügten, besser dran waren. Die Umzüge waren noch im Gange, und schon drangen deutsche Soldaten und litauische Partisanen in die neubezogenen Häuser, ganz besonders in die schönen, ein und nahmen sich dort, was sie nur wollten.

      Am


<p>23</p>

Helene Holzman hat die Stelle für die Zahl der Opfer freigelassen, wohl um sie später nachzutragen. Diesem Massaker, bei dem zahlreiche deutsche Uniformierte zugegen waren und fotografierten, fielen am 27. Juni 1941 etwa sechzig Juden zum Opfer. Der Garagenhof der» Lietukis«-Genossenschaft lag nicht an der Bahnhofstraße, wie Helene Holzman schreibt, sondern am Vytautas-Prospekt, der zum Bahnhof führt. In der Zeit vor der sowjetischen Besetzung Litauens hatte sich hier die Shell-Tankstelle befunden.

<p>24</p>

Am 10. Juli 1941 gaben der litauische Militärkommandeur von Kaunas, Jurgis Bobelis, und der Bürgermeister von Kaunas, Kazys Palčiauskas, den Erlaß heraus, daß alle Juden spätestens bis zum 15. August in das Ghetto Vilijampole umzuziehen hätten.

<p>25</p>

In Kaunas lebten zum Zeitpunkt des deutschen Einmarschs etwa 40000 Juden. Etwa 15 Prozent der ca. 30000 Personen, die noch im Juni 1941 von den Sowjets aus Litauen nach Sibirien deportiert wurden, waren Juden. Anfangs lebten im Ghetto Vilijampole etwa 30000 Menschen.