"Dies Kind soll leben". Helene Holzman. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Helene Holzman
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783895619946
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Brot. Gegenüber vom Gefängnis war ein großer Hof. Dort stand schon eine große Menschenmenge, meist Frauen mit ihren Gaben für die Gefangenen. Wir stellten uns in die Reihe.

      Viele kannten sich schon untereinander. Sie trafen sich jeden Donnerstag hier, und da man stundenlang anstehen mußte, war Zeit, sich gegenseitig das Herz auszuschütten. Wir wurden auch gleich gefragt, wen wir im Gefängnis hätten. Alle waren hier Leidensgefährten und hatten Verständnis für die Sorgen des Nächsten. Aber wir hatten unsere besondere Sorge, die wir verschwiegen.

      Die meisten brachten ihren Männern, manche den Söhnen, den Vätern. Viele waren vom Lande, manche waren bis vierzig Kilometer weit mit ihren Fuhren gekommen. Die Pferde standen auch im Hof unter einem großen Baum. Es war sehr heiß. Für die Wartenden gab es kein Schattendach. Endlich rückten wir an den Schuppen heran, wo die Gaben registriert und in Empfang genommen wurden. Holzman? Das ist doch ein jüdischer Name. Juden werden [an] einem anderen Tag behandelt. – Nein, ein deutscher! sagte ich. Der Beamte suchte in seinem großen Buch, fand, notierte, gab eine Nummer. Mit dieser mußte man in einem anderen Schuppen anstehen. Unser Mitgebrachtes wurde gewogen. Es wurde nicht mehr als zwei Kilo angenommen. Brot, Butter wurden zerschnitten und untersucht, ob sich nichts Unerlaubtes darin befände. Dann mußten wir mit einem Träger, einem jungen Menschen, über die Straße bis zum Gefängnistor mitgehen. Dort sollten wir warten.

      Viele andere warteten mit. Die meisten hatten schon Erfahrung. Es schien endlos lange zu dauern. Wenn man sie nur nicht als jüdischer Abstammung gerechnet hat! Dann wird man es nicht annehmen. Gretchen und ich standen und preßten uns gegenseitig die Hände. Die Angst, diese entsetzliche Angst, immer wieder wegen dieser einen Sache, unserem schrecklichen Geheimnis. Da kam der Bote, gab uns unsere leere Tasche und ein Zettelchen, auf dem Marie ihren Namen geschrieben.»Sie hat sich so gefreut«, sagte er,»wollte mehr schreiben, aber das ist streng verboten. «Dieser unmittelbare Gruß bewegte uns sehr. Wir gingen beruhigt nach Hause.

      Von dieser Zeit an lebten wir nur von einem Donnerstag zum andern. Die ganze Woche sammelten wir Nahrhaftes und Leckeres in unsere bastene Einkaufstasche. Am schwersten war, Butter oder Speck zu bekommen, aber es gelang doch jedesmal, und auch Süßigkeiten erstanden wir. Und jedes Mal das stundenlange Anstehen auf dem großen, sonnigen Hof, die rauhen Beamten, die die Bangenden duzten und halb wie Sträflinge behandelten. Das bange Warten auf das tröstende, lebendige Zeichen. Auf litauisch:»Maryte Holcmanaite«. Ich studierte es jedesmal, um ihre Stimmung daraus zu ersehen. Wird meine Kleine ihren Mut, ihre Zähigkeit behalten? Wird sie die Qual des Kerkers tapfer tragen?

      Unterdessen hatte ihr Freund Viktor erfahren, daß sie an jenem verhängnisvollen Tage im Lazarett gewesen war, um die ihr schon bekannten deutschen Soldaten zu besuchen. Das Gespräch sei wieder auf das alte Thema gekommen: Friede um jeden Preis. Ein deutscher Stabsarzt habe das gehört, sich selbst ins Gespräch gemischt. Er verdächtigte die junge Friedensapostelin als Agentin des Feindes und ließ sie verhaften.

      Ich lief wieder zur Polizei. Man sei hier nicht zuständig, ich solle mich an die deutsche wenden. Dort war man unfreundlich. Man erinnerte sich, daß ich schon oft wegen meines Mannes gekommen war. Man werde untersuchen, ob meine Tochter wirklich so unschuldig sei, wie [sie] behauptete. Ich brauche nicht wiederzukommen, das werde nichts helfen. Ich hatte ein böses Gefühl, als ich von dort kam, diese harten, fanatischen Gesichter, der kalte, schneidige Ton, die verhaßten Parteiuniformen mit dem scheußlichen Hakenkreuz. Diese Menschen reden unsere Muttersprache, und dennoch ist es ganz hoffnungslos, sich mit ihnen zu verständigen. Man kann sie nur meiden, fliehen, davonlaufen. In ihren Händen ist meine Marie.

      Unterdessen hatte die deutsche Zivilverwaltung mit ihrem großen Troß von Angestellten von der Stadt Besitz ergriffen. Sie nahmen sich die Wohnungen der Juden. Viele jüdische Familien, die noch nicht umgezogen waren, wurden aus ihren Wohnungen herausgejagt. Alles, was den neuen Bewohnern gefiel, mußten sie darin zurücklassen, so daß vielen Juden kein oder nur ganz wenig Hausrat blieb. Für alle jüdischen Angelegenheiten wurde eine Persönlichkeit eingesetzt, die die Ironie des Schicksals nach dem Fluß des Gelobten Landes benannt hatte: er hieß Jordan.[30] Zu ihm kamen alle, deren Zugehörigkeit zum jüdischen Volke nicht geklärt war, die zum Teil bisher keinen gelben Stern getragen hatten und nicht ins Ghetto gezogen waren, die Halbjuden, die Mischehen, die Angehörigen neutraler Länder. Jordan empfing sie persönlich, ließ sich den Fall kurz vortragen und schrie sie dann an: Sofort ins Ghetto!

      Ich suchte nach Menschen, die uns helfen könnten. Aber zu wem ich auch kam, alle hatten Angst, bei der Gestapo auch nur den Versuch einer Vermittlung zu machen. Den Litauern gefiel zwar das Auftreten der Deutschen nicht, aber es imponierte ihnen und schüchterte sie zugleich ein. Ich wurde überall teilnahmsvoll angehört und mit bedauernden Worten abgewiesen. Mein Mann war allen gebildeten Litauern bekannt gewesen und überall hoch geachtet. Auch Marie hatte viele Bekannte, und alle hatten sie gern. Aber jetzt wollte keiner etwas riskieren. Auch ihre Dienststelle lehnte jede Vermittlung ab.

      Als ich Edwin und Lyda von unserer Marie erzählte, antwortete Lyda mit gleicher Schreckensnachricht: ihre Mutter war ausgegangen und hatte vergessen, den gelben Stern anzustecken. Sofort wurde sie verhaftet und ins Gefängnis geführt. Lyda brachte ihr einmal Essen. Die zweite Woche nahm man für Juden nichts mehr an.

      [Bei] Edwins deutschem Paß war der Gültigkeitstermin abgelaufen. Er wagte nicht, auf die Straße zu gehen, wagte auch nicht, um eine Verlängerung anzugehen. Schließlich machte er sich zu Jordan auf. Der war gerade nicht zu sprechen. Eine freundliche Sekretärin versprach, den Fall so vorzutragen, daß er möglichst günstig aussehe. Er solle in ein paar Tagen wiederkommen. Wir machten uns schon Hoffnungen. Das nächste Mal wurde Edwin von Jordan selbst empfangen.»Sie sind Mischling ersten Grades? Verheiratet mit einer Jüdin, also Jude. Marsch ins Ghetto! Und daß Sie nicht wagen, ohne Stern auf die Straße zu gehen!«

      Damit waren die Hoffnungen zu Ende. Lyda suchte eine Wohnung im Ghetto. Die besseren waren unterdessen besetzt. Sie hoffte, daß auch die Mutter mit ihnen wohnen würde. Schließlich fand sie ein Stübchen. Ich war fast jeden Tag bei ihnen, half ihnen, einen kleinen Vorrat an Lebensmitteln zu sammeln, besorgte Kerzen, Zigaretten, einen elektrischen Kocher. Einen Teil ihrer Sachen ließen sie bei Bekannten, bei der Dienstmagd ihrer Hauswirte.

      Der Weg zum Ghetto war weit. Sie wohnten am andern Ende der Stadt. Es war unendlich ermüdend, auf dem holprigen Kopfsteinpflaster zu gehen.[31] Einmal kam sie ganz gebrochen nach Hause. Ihr schönes, beseeltes Gesicht von tiefstem Leid gestempelt. Sie hatte, da ihre Kräfte in der heißen Sonne versagten, einen Fuhrmann gebeten, sie mitfahren zu lassen. Der Weg führte am Gefängnis vorbei. Dort hielt sie ein Wächter an:»Herunter vom Wagen, du Judschke. Ihr Juden habt Jesus ans Kreuz geschlagen, dafür muß man euch bestrafen. «Wir weinten zusammen über die hoffnungslose Grausamkeit und Verblendung der Menschen.

      Der Umzug der Juden näherte sich seinem Abschluß. Einige Straßen, die schon bezogen waren, mußten wieder geräumt werden, da man [das] Ghetto verkleinerte. Die Juden mußten es selbst mit Stacheldraht einzäunen. Der Plan einer Mauer, den man anfangs hatte, wurde wieder aufgegeben.

      Einige Tage vor Schluß[32] gingen Gretchen und ich dorthin, um unsere alten Zinghaus zu besuchen. Seit dem Tage des Einzugs der Deutschen war jeden Tag strahlendes Wetter. Es war wie ein Hohn auf das Leid, das die Sonne beschien. Die Ufer der Vilija lagen in mildem Licht. Viele Menschen gingen über die Brücke, ruhig, gleichgültig, unberührt vom Schicksal der hinter den Stacheldrahtzaun Verbannten.

      Der Zaun war damals noch nicht überall geschlossen. Wir gingen außerhalb des Zauns am Ufer entlang. Dort arbeiteten Straßenarbeiter, kräftige, fröhliche Gesellen, unbekümmert um die Schicksale jenseits des Zaunes. Wir gingen beklommenen Herzens hinein. Dort in einem kleinen Holzhäuschen wohnte ein Geiger mit seiner Familie.[33] Er stand vor dem Haus. Wir begrüßten ihn, traten in das Gärtchen. Rote Rüben, Kohl, Tomaten, Blumen wuchsen dort.»Nicht für uns«, erklärte er.»Der frühere Bewohner holt sich das Gemüse.«

      Er wohnte zusammen mit einer zweiten Familie in dem winzigen Häuschen. Der Großvater schlief auf einer Pritsche in der Küche. Die Kleinheit


<p>30</p>

Fritz Jordan, Hauptsturmführer der SA, Referent für Judenfragen bei der Zivilverwaltung in Kaunas.

<p>31</p>

Noch vor der Verordnung vom 31. Juli 1941, der zufolge alle Juden vorn und auf dem Rücken einen gelben Stern tragen mußten, hatte der deutsche Stadtkommissar von Kaunas, Hans Cramer, am 28. Juli 1941 bestimmt:»Der jüdischen Bevölkerung wird das Betreten der Gehsteige untersagt. Die Juden haben den rechtsseitigen Rand der Fahrstraße einzuhalten und hintereinander zu gehen.«(»Hidden History of the Kovno Ghetto«, S. 49)

<p>32</p>

Als letzter Termin für den Umzug ins Ghetto war der 15. August 1941 festgesetzt worden.

<p>33</p>

Robert Stender, erster Geiger an der Kaunaer Oper. Er wurde bei der sogenannten» Intellektuellen-Aktion«(vgl. S. 66f.) ermordet.