«Dies Kind soll leben«
Die Aufzeichnungen der
Helene Holzman 1941–1944
Schöffling & Co.
Helene Holzman, um 1950.
Erstes Heft
Vitam non mortem recognita
Dreimal schlug das Wasser Wellen,
Dreimal tauchtest du empor,
Dreimal hätt’ ich retten können,
Doch ich habe blind versagt.
Lautlos zogest du von hinnen,
Lautlos folg ich deiner Spur,
Lautlos glätten sich die Kreise,
Du und ich verrinnen beid.
19. Juni 1941. Wir hatten nach langem Suchen endlich eine Wohnung [in Wilna] gefunden und schließlich auch ein Fuhrwerk, mit dem wir unsere Koffer und unsere anderen Habseligkeiten dorthin geschafft hatten, und fuhren mit dem Abendzuge [zurück] nach Kaunas.
Die neue Wohnung bestand aus einem einzigen Zimmer in einem altmodischen Hause unweit vom Bahnhof und war ein schlechter Tausch gegen unsere schöne, blanke Kaunaer Wohnung. Wir hatten uns aber schon damit abgefunden und uns ausgedacht, wie wir den großen Raum einteilen würden, so daß jeder seinen Platz darin haben würde. Im Sommer könnte man sich auf dem weiten, großen steinernen Altan aufhalten, der zu dem Zimmer gehörte, von dem man in die stille Straße und einen weiten Garten mit mächtigen Bäumen sah. Im Winter würden wir uns alle vier um den großen Kachelofen drängen, und die Abende würden warm und gemütlich sein.
Wir waren auf dieser zweistündigen Fahrt von Wilna nach Kaunas sehr vergnügt und voller Pläne. Wir hatten, nachdem unsere Buchhandlung» Pribačis «in Kaunas, die wir in fast zwanzig Jahre langer Arbeit aufgebaut hatten, nationalisiert worden war[1], beide Arbeit in Wilna gefunden – mein Mann als Leiter eines großen staatlichen Antiquariats, ich als Lehrerin für Deutsch am Pädagogischen Institut. Einige Monate lang waren wir mehrmals in der Woche zwischen Kaunas und Wilna hin und her gefahren. Jetzt sollte das unbequeme Leben aufhören. Die beiden Mädchen hatten ihr Schuljahr beendet, und wir wollten alle zusammen in Wilna leben.
Im Abteil mit uns fuhr ein hoher Polizeifunktionär. Wir fragten ihn, ob er den Gerüchten über Truppenansammlungen des deutschen Heeres an der litauischen Grenze Wert beilege. Er lachte uns aus. Weder die Deutschen noch die Russen seien für einen gegenseitigen Krieg vorbereitet. Er selbst habe gerade Ferien bekommen und wolle auf die Kurische Nehrung fahren. Diese Nachricht beruhigte uns völlig. Wir wandten unsere Gedanken wieder unseren eigenen Angelegenheiten zu.
Zu Hause wurden wir mit großem Jubel empfangen.[2] Marie hatte ihr Abitur gut bestanden – keine Kleinigkeit in der Abendschule neben der Tagesarbeit im Büro. Gretchen hatte auch gute Zensuren. Beide Mädchen freuten sich auf den Umzug in die neue Hauptstadt[3], und wir alle [waren froh], daß wir wieder zu viert zusammen wohnen würden. Bevor wir unsere Möbel packten, wollten wir noch ein Abschiedsfest geben und alle Kaunaer Freunde dazu einladen. Keinem von uns kam eine Ahnung, daß dies die letzte fröhliche Stunde war, die wir zusammen verlebten.
Am nächsten Morgen schwirrten schon die Straßen von der Kriegserklärung Deutschlands an die Sowjetunion. Unsere Freunde, Doktor Zinghaus mit seiner Frau, kamen zu uns. Wir waren zunächst alle ganz fassungslos und in keiner Hinsicht darauf vorbereitet. Doktor Zinghaus, der mit seinen Eltern drei Jahre vorher aus Berlin geflüchtet war, sprach gleich von der Notwendigkeit, nach dem Innern der Sowjetunion zu flüchten. Die Sowjets seien nicht auf den Krieg vorbereitet und wahrscheinlich nicht imstande, die Front in Litauen zu halten.
Die ersten Bomben fielen. Die Bevölkerung beklebte ihre Fenster mit Papierstreifen. Unsere Freunde gingen nach Hause, um ihre Eltern zu holen, da sie sich in ihrer Wohnung nahe der Funkstation zu gefährdet glaubten.
Ich ging aus, um zum Mittagessen einzukaufen. Vor den Läden standen die Menschen in langen Schlangen. Jeder wollte noch schnell etwas erraffen. Sie standen dicht an die Häuser gedrückt, denn überall krachten die Bombeneinschläge, stiegen Rauchwolken auf, und mancher Straßengänger wurde von Splittern verletzt. Auf der Heeresstraße zogen die Soldaten westwärts nach der Front, immer neue, zu Fuß, mit Geschützen, zu Pferde.[4] Mein Blick fiel zufällig auf einen kindlich jungen Reiter, der mit hellem Blick geradeaus sah. Werdet ihr der Wucht des Feindes widerstehen? Wißt ihr, ahnt ihr es, welche Gewalten gegen euch aufgestanden sind?
Die verschiedensten Gerüchte wurden laut. Memel sei bereits in den Händen der Sowjets. Nein, im Gegenteil, die Deutschen seien schon in Marijampole. Zu Hause waren alle sehr aufgeregt. Doktor Zinghaus war unterdessen im Nachrichtenbüro gewesen: Ja, der Feind rücke heran.
Er war nun da, der bange Augenblick, den wir schon seit vielen Jahren für möglich gehalten, den wir hundertmal mit den Freunden erwogen hatten, ohne an sein Herannahen ernstlich zu glauben. Während acht Jahren hatte sich der Nationalsozialismus gespenstisch immer mehr aufgebläht. Wir sahen bei unseren Reisen nach Deutschland, wie er die Menschen verdarb, verdummte, durch einen verlogenen Scheinsozialismus die Menschen betrog und [wie] der irre Antisemitismus immer erbarmungsloser Tausende von Deutschen, so gute Deutsche wie alle andern, hinwegmähte, nur weil sie nach der neuen Wahnidee keine» Arier «waren.
Die Volksdeutschen[5] aller Länder waren von dem Wahn infiziert worden. Ich erlebte, wie meine Kollegen im Kaunaer Deutschen Gymnasium, die sich bis jetzt munter Demokraten genannt hatten, dem Massenwahn verfielen. Während der zehn Jahre, die ich dort Lehrerin gewesen war, hatten deutsche, jüdische, litauische, russische, polnische Knaben und Mädchen in fröhlicher Gemeinschaft die Schule besucht. Auch die Lehrer waren ein buntes Volksgemisch, und keinem war es je eingefallen, es sich anders zu wünschen.
Was geschah nun im Jahre 33? Die Deutschen, die bis jetzt im litauischen Staat blühten und gediehen, waren auf einmal unzufrieden. Sie fanden auf einmal, daß man sie unterdrücke. Man erkenne sie nicht an, man müsse sich neue Rechte verschaffen. Nach den ersten Pogromen in Berlin[6] traten die jüdischen Schüler aus dem Gymnasium aus. Das war erst recht ein Grund für die Deutschen, ihren erwachten Antisemitismus zu nähren. Aus unserer Buchhandlung, die von Litauern, Juden, Deutschen gleichmäßig besucht wurde, zogen sich die deutschen Kunden zurück. Mein Mann, der bis jetzt für jeden ein Deutscher gewesen war, war auf einmal für die Deutschen keiner mehr – er war Jude.[7]
Die litauische Intelligenz kümmerte sich im allgemeinen nicht viel um diese Probleme. Unsere litauischen Freunde und Kunden blieben dieselben, und es gelang uns, die litauische Staatsangehörigkeit zu erwerben, die uns auch bei unseren Reisen durch Deutschland schützte.[8] Als 1940 der litauische Staat eine Republik der Sowjetunion geworden war und die Deutschen in ihrer Gesamtheit» heim ins Reich«[9] gewandert waren, hatten die Anfechtungen, unter denen wir und die Kinder gelitten hatten, aufgehört. Wir waren Menschen unter Menschen.[10]
Wir saßen, wie gestern abend, in unserer schönen Stube, vor uns Marie und Gretchen, schwesterlich einander ähnelnd. Die gestrigen Pläne waren zerflogen. Was tun? Ins Innere Rußlands flüchten? Wir konnten kein Russisch. Nein, wir wollten hier bleiben, vor allem zusammenbleiben, sich keinesfalls trennen. So würden wir auch schwere Zeiten überwinden.
Am Nachmittag begannen wir, zusammen mit unserem Wirt vor dem Haus einen Schützengraben zu graben. Max als erfahrener Weltkriegssoldat gab die Direktiven.
Freund Edwin Geist[11], der Komponist, kam mit seiner Frau: Ob sie