"Dies Kind soll leben". Helene Holzman. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Helene Holzman
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783895619946
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Mittag entschlossen sich Zinghausens, mit einem Zug, der auf dem Bahnhof bereit stand, in Richtung Minsk zu flüchten. Sie wollten nach Hause laufen, um in Eile kleine Köfferchen mit dem Nötigsten zu packen, und dann sofort zum Bahnhof eilen. Sollten wir nicht doch mitkommen? Wir sagten nein. Eiliger Abschied.

      Nach einigen Stunden kamen die Eltern Zinghaus zurück. Sie seien zusammen in den überfüllten Zug eingestiegen. Immer neue Menschen hätten sich hineingedrängt, sich auf die Waggons gesetzt, an die Tür gehängt. Da habe sie, die Alten, eine solche Furcht vor dieser Fahrt ins Ungewisse überkommen, daß sie sich von ihren Kindern, die keinesfalls von ihrem Fluchtplan ablassen wollten, getrennt hätten und wieder ausgestiegen seien. Da saßen sie wieder bei uns. Der alte Herr, schon siebzig Jahre und gebrechlich, mit den dichten, borstigen weißen Haaren, weinend wie ein Kind, und seine Frau war besorgt um ihn und weinte auch, und wir trösteten sie.

      Unsere Alten hatten aber keine Ruhe. Nach einigen Stunden beschlossen sie, noch einmal zum Bahnhof zu gehen. Vielleicht war der Zug noch nicht abgefahren, und sie könnten ihre Kinder noch einmal sehen und ihnen noch etwas Geld mitgeben. Sie kamen am Abend nicht zurück. So sind die Alten also doch mitgefahren, dachten wir und gelobten uns zum wiederholten Mal, auf jeden Fall zusammenzubleiben, komme, was wolle.

      Dann kam der Dienstag.[12] Auf den Straßen vollzog sich die Revolution. Ein bewaffnetes Heer, Zivilkleider, eine Binde am Arm, war aus dem Boden gewachsen, die Partisanen.[13] Wir hatten keine Vorräte im Haus, und ich ging einholen. Wieder standen lange Schlangen vor den Läden. Überall knallte, dröhnte es. Das Heer der Rotarmisten füllte die Straße, diesmal als Rückzügler. Unter den schnell reitenden Kavalleristen glaubte ich wieder den jungen Reiter zu erkennen, der vor zwei Tagen westwärts geritten war. Der deutsche Einfall war gelungen. Drei entsetzliche Jahre mußten vergehen, ehe die Rote Armee durch diese Straße wieder hergezogen kam – als Sieger.

      Ganz in der Nähe platzte eine Bombe. Ich stand in der Menge an eine Hauswand gedrückt. Da sah ich Max kommen. Er fand es zu gefährlich, auf der Straße zu stehen, und holte mich ab.

      Dem deutschen Heer war der schreckliche Geier, der Judenhaß, mit schwarzen Schwingen vorangeflogen. Schon bevor die deutschen Soldaten einrückten, hatten die Partisanen ihre antisemitischen Befehle bekommen. Viele von den Juden, die in diesen Tagen noch zu fliehen versuchten, [wurden] von den Partisanen aufgehalten, festgenommen oder zur Rückkehr gezwungen. Ein furchtbarer Anblick: die Züge von Juden, die aus der Stadt flüchteten. Die Kühneren, auf Fahrrädern, wollten ins Innere Rußlands. Viele gedachten, nun in die Provinz zu ziehen. Vielleicht hofften sie dort auf mehr Schutz durch die litauische Bevölkerung, denn gerade auf dem Lande waren die Beziehungen zwischen Litauern und Juden oft sehr freundlich gewesen.

      Marie wollte am Nachmittag durchaus zur Mutter eines Freundes gehen, der geflüchtet war und ihr Grüße für die Mutter aufgetragen hatte.[14] Ich wollte sie begleiten, damit sie nicht allein geht. Unsere Straße war menschenleer. Von allen Seiten tönten Schüsse. Als wir in die breite Straße einbogen, die vom Grünen Berge[15] in die Stadt führt, rief uns ein Partisan an:»Was habt ihr auf der Straße zu suchen?«– Wir hätten einen wichtigen Gang. Er solle uns vorbeilassen.

      Da erkannte er Marie.»Bist du nicht die Kommunistin? Warte, dir wird es jetzt schlecht ergehen.«[16] Aber er ließ uns weitergehen. Wir stiegen einen kleinen Treppenpfad direkt zur Stadt hinunter. Unten wieder ein Partisan. Er ließ uns nicht durch, und wir mußten umkehren.

      Mein Mann hatte sich schon Sorgen um uns gemacht. Noch einmal freuten wir uns, wieder vereinigt zu sein, und wir nahmen uns vor, ein paar Tage gar nicht auszugehen und erst einmal abzuwarten. Am Abend ließen die Deutschen eine große weiße Leuchtkugel aufsteigen zum Zeichen, daß die Stadt eingenommen war.

      Mittwoch (25. Juni).[17] Mein Mann hielt es nicht zu Hause aus. Er wollte in den Staatsverlag, dessen Angestellter er war, gehen und sich besprechen. Wir hatten von privilegierten Mischehen in Deutschland gehört. Mein Mann war im Leipziger Buchhändlerbörsenverein bis zuletzt ein hochangesehenes Mitglied. Aus Holland wußten wir, daß Juden zum Teil in Stellungen belassen waren, und wenn nicht, so würde ich doch wahrscheinlich weiter Lehrerin sein können.

      Er und Marie gingen zusammen fort. Ich sollte unterdessen etwas zu Mittag kochen. Ich ging in den Garten, sammelte Brennesseln und Ackermelde für Spinat. Im Keller waren Kartoffeln. Als ich vom Garten heraufkam, standen die beiden alten Zinghausens vor der Tür.

      Sie waren völlig erschöpft und verzweifelt. Als sie am Montag auf den Bahnhof gekommen sind, war der Zug schon abgefahren. Im Augenblick, wie sie zurückgehen wollten, wurde der Bahnhof bombardiert. Sie flüchteten mit vielen andern Menschen in einen Hauskeller, wo sie die Nacht und auch den folgenden Tag und die Nacht unbequem sitzend verbrachten. Die Straßen um den Bahnhof wurden gesperrt. Für Zivilisten war kein Durchkommen möglich. Sie konnten in ihrem Versteck Wasser bekommen und auch ein paar Semmeln kaufen. Am Morgen wollten sie dann in ihre Wohnung gehen.

      Der Hausmeister wollte sie nicht hereinlassen. Man hätte geglaubt, daß sie geflohen seien, und die Wohnung sei bereits von deutschen Offizieren beschlagnahmt. Nach vielem Bitten und einem großen Trinkgeld erklärte er sich schließlich bereit, sie einzulassen. Sie fanden ihre Wohnung vollständig ausgeplündert. Alle Schränke waren ausgeräumt, alle Wäsche, Kleider, Schuhe, Betten, Decken, alles Geschirr und Küchengerät verschwunden. Im eingebauten Küchenschrank fanden sie ein paar einzelne Teller und Messer und Gabeln. Der Hausmeister vertrieb sie bald mit groben antisemitischen Beschimpfungen, und so waren sie wieder zu uns gekommen.»Wir waren wohlhabende Leute, jetzt sind wir von einem Tag zum andern Bettler geworden.«

      Während sie sich wuschen und ausruhten, kochte ich schnell Mittagessen. Wo blieben nur mein Mann und Marie so lange? Ich lief vor Ungeduld auf die Straße, bis zur Hauptstraße. Dort stand ich und wartete, wartete – anfangs nur ärgerlich, daß sie so säumten, aber allmählich mit immer wachsender Angst. Ich sah die ersten deutschen Soldaten. Um einen hatten sich Leute versammelt. Er erzählte laut, wie er versteckte Russen aufgefunden und umgebracht hätte.»Und die Juden? Ich sehe ja gar keine. Sie haben sich wohl alle davongemacht oder in ihren Schlupfwinkeln versteckt. «Alle lachten laut und roh. Der Soldat trug den Hals weit ausgeschnitten und ein buntes Halstüchlein. Ich sah das zum ersten Mal.

      Es war drei Uhr. Ich lief nach Hause, bewirtete die beiden alten Gäste, zwang mich, auch zu essen, um sie nicht mit meiner Angst aufzuregen. Vor Gretchen konnte ich sie nicht verbergen. Noch immer kommen unsere beiden nicht. Ich lief in die Stadt herunter. Schon vom Berg sah ich die Hakenkreuzfahne auf dem Kriegsmuseum wehen. Die Laisves Allee[18] voller Menschen. Die deutschen Soldaten wurden enthusiastisch als» Befreier «begrüßt. Alle Menschen waren erregt und die meisten vergnügt.

      Ich traf den Rechtsanwalt Stankevičius mit seiner Tochter.»Haben Sie meinen Mann gesehen?«Er wurde sofort bedenklich. Es seien viele Juden auf der Straße verhaftet.

      Ich jagte durch alle Straßen, fragte alle Bekannten, keiner hatte die beiden Unseren gesehen. Dann hetzte ich wieder nach Hause. Vielleicht sind sie unterdessen gekommen? Nichts. Den Gästen Abendbrot gemacht, ein wenig gesprochen, wieder auf die Straße, bis es dunkel wurde.

      Am nächsten Tag hörte man von allen Seiten von großen Judenverfolgungen. Aufrufe: Juden hätten auf deutsche Soldaten geschossen. Für jeden getöteten Soldaten werde man 100 Juden töten. Die Zeitungen, Flugblätter enthielten fast nichts anderes als die furchtbarsten antisemitischen Exzesse.

      Ich lief zur litauischen Polizei, traf vor der Tür einen litauischen Kriminalbeamten, der meinen Mann gut kannte. Er versprach, sich zu erkundigen, wo die Meinen seien, und mir Nachricht zu geben. Er hat nichts von sich hören lassen. Ich traf ihn später noch oft. Er vermied [es], mit mir zu sprechen.

      Drei Tage lief ich so umher, zu Hause die beiden alten Freunde, die auch getröstet werden wollten. Gretchen half mir überall. Wir verstanden uns ohne Worte. Am dritten Tag ging mittags das Telefon. Marie!» Mutti? Ich bin da. Ist


<p>12</p>

Der 24. Juni 1941. Am Abend dieses Tages wurde Kaunas von der deutschen Wehrmacht eingenommen.

<p>13</p>

Diese litauischen Partisanen kämpften gegen die Rotarmisten und bildeten zugleich die wichtigste Hilfstruppe der deutschen Besatzungsmacht bei den Mordaktionen gegen die jüdische Bevölkerung. Schon vor dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht organisierten die Partisanen erste Pogrome.

<p>14</p>

Zu dem Kreis der» Tolstoianer«, dem dieser Freund wie auch Maries Freund Viktor, der Sohn der Augenärztin Elena Kutorga, angehörte, vgl. auch S. 30.

<p>15</p>

Vgl. Anm. 2.

<p>16</p>

Marie Holzman hatte sich während des» Sowjetjahrs«(Juni 1940 bis Juni 1941) beim» Komsomol«, der kommunistischen Jugendorganisation, engagiert.

<p>17</p>

Im Manuskript irrtümlich:»23. Juni«. Siehe Anm. 12.

<p>18</p>

Die Laisves Aleja (Freiheits-Allee) war die Haupt- und Flanierstraße von Kaunas. Im Haus Nr. 48 hatte sich zuletzt Max Holzmans Buchhandlung» Pribačis «befunden.