"Dies Kind soll leben". Helene Holzman. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Helene Holzman
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783895619946
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ihr mir denn nicht helfen, ich vergehe vor Sehnsucht und Qual. «Auch wir weinten heiß vor Sehnsucht und Qual.

      Ich ging ins Generalkommissariat, um noch einmal mit dem Rechtsanwalt Baumgärtel zu sprechen. Er arbeite nicht mehr hier und werde bald nach Deutschland versetzt werden. Ich bat ihn durch einen gemeinsamen Bekannten, ihn in seiner Privatwohnung aufsuchen zu dürfen. Er lehnte ab, mich zu empfangen. Ich hatte kurz vorher den früheren Direktor des Kaunaer Deutschen Gymnasiums um eine Unterredung bitten lassen und ebenfalls eine abschlägige Antwort erhalten. Ein feiges Volk, die Deutschen.

      Ich ging in die Privatwohnung des mir bekannten litauischen Kriminalbeamten. Ich wollte ihn ohne vorherige Anmeldung aufsuchen und um seine Vermittlung bei der Gestapo bitten. Sein Haus war verschlossen.»Da können Sie lange klingeln und klopfen«, sagten die Nachbarn,»er ist nämlich seit einigen Wochen verhaftet.«

      Da ließ ich alle Vorsicht und ging selbst in das Schrekkenshaus der deutschen Polizei, in das ich schon in den ersten Kriegswochen so oft und so vergeblich gegangen war. Im Gang saß der frühere Schüler. Er nahm diesmal nicht die Hand, die ich ihm reichen wollte, sondern sagte nur halblaut und sehr schnell:»Wir wissen Bescheid. Sie können nichts bessern, gehen Sie schnell wieder fort!«Ich ging.

      Ich hatte jetzt mehr Privatschüler und gab meine Stunden korrekt und gewissenhaft. Keiner merkte mir die Sorgen an. Manche Tage vergingen mit der Besorgung von Holz und Kartoffeln. Weit draußen in einem Vorort sollten Kartoffeln in einem Waggon angekommen sein. Als ich hinkam war es schon dämmerig geworden. Die Waggons standen offen. Leute luden gefüllte Säcke auf Kinderwagen und Fuhrwerke. Ich vereinbarte mit einem Fuhrmann, meinen Sack mit zur Stadt zu nehmen. Doch als ich mich daran machen wollte, ihn zu füllen, verwehrte es der Bahnbeamte. Es sei zu spät. Er zog den Waggon zu. Man gab nichts mehr ab.

      Ein Trupp grauer Gefangener zog langsamen Schrittes hinter den Bahnschienen vorbei. Sie trugen einen toten Genossen zu Grabe. Es fing an zu regnen. Die Tränen strömten mir aus den Augen. Ich weinte über den toten fremden Russen, die Bosheit der Menschen, aus wilder Sehnsucht und Verzweiflung.

      Ende Oktober. Wir saßen abends in unserer Stube und taten nichts, waren traurig und unruhig. [Da] kamen zwei junge Mädchen zu uns, mit einem Gruß von Marie! Sie seien einige Tage wegen Übertretung des Tanzverbotes verhaftet und mit Marie in einer Zelle gewesen. Sie hätten sich schnell miteinander angefreundet, hätten zusammen gespielt und gespaßt und seien sehr lustig gewesen. Marie hoffe, auch bald entlassen zu werden. Dann wollten sie ihre neue Freundschaft weiter pflegen. Sie sei gesund und fröhlich gewesen. Der Besuch dieser strahlenden, hübschen Mädchen belebte und tröstete uns.

      Als sie fortgegangen waren, holte Gretchen das Büchschen mit dem chinesischen» Zitterspiel«. Sie warf die elfenbeinernen dünnen Stäbchen zu einem Häufchen auf den Tisch, und wir versuchten mit einem zierlichen Häkchen eins nach dem andern herauszuziehen, ohne die übrigen dabei zu berühren. Wir spielten und sprachen von unserer Liebsten, unserer Marie, die sich nach uns sehnte, wie wir uns nach ihr.

      Am folgenden Donnerstag stand ich ruhiger als sonst in der Schlange der Wartenden vor dem Gefängnis. Die Mädchen hatten viele Einzelheiten erzählt, von den verschiedenen Wärterinnen, den guten, die die Vertrauten der Gefangenen waren, und den bösen, vor denen man seine heimlichen Beschäftigungen versteckte. Ich hatte auf dem Weg zum Gefängnis noch Äpfel gekauft und in die Strumpfspitzen wieder ein tröstendes, zärtliches Briefchen geknäult. Endlich kam ich an die Reihe zur Registration.

      «Maryte Holcmanaite – H, H, so eine ist bei uns nicht.«—»Vielleicht falsch registriert. Sehen Sie mal bei Ch nach oder bei G.«[46] —»Nein, ist nicht da. «Er sah sich mit einem andern Beamten bedeutungsvoll an.»Gehen Sie zur Inspektion, fragen Sie dort. «Der Inspektor war mürrisch:»Gehen Sie zur deutschen Polizei.«

      Wieder in das verhaßte, weitläufige Gebäude. Ich ließ mich bei Stütz melden, wurde sofort eingelassen. Ein junger brünetter Mann in schwarzer Uniform. Das Hakenkreuz der Armbinde mit einem schwarzen Seidenband sauber aufgenäht. Er saß am Schreibtisch. Ich stand.»Ihre Tochter, ja, die ist fort.«—»Fort? Wo ist sie? Verschleppt? Ist sie tot?«—»Ich werde mal telefonieren.«

      Er ließ sich verbinden und sprach mit einer anderen Stelle, sprach von ganz anderen Dingen, mit vielen unverständlichen Ausdrücken. Ich rüttelte den Mann am Arm, flehte.»Sagen Sie doch schneller, wo sie ist. Martern Sie mich nicht länger. «Er ließ sich nicht stören, sprach noch lange weiter, dann hängte er ab, sah mich an.

      «Ihre Tochter ist tot. – Das war doch eine gefährliche Kommunistin, und ihr Vater ein Jude. Jetzt wird mit allen Juden hier aufgeräumt. Wir selbst beschmutzen uns nicht damit, dazu haben wir die Litauer. Im Reich haben wir das bis jetzt versäumt. Auch dort wird keiner übrigbleiben. Die Halbjuden werden nicht gleich behandelt, aber die gefährlichen, die müssen weg.«

      Es kamen noch einige in das Zimmer. Ein dicker Bote in brauner Uniform schüttelte den Kopf und sagte:»Ja, ja, arme deutsche Frau. «Ich sah die Männer vor mir, sah sie an:»Mörder! Ihr seid die Mörder. «Stütz nahm den Revolver, der auf dem Schreibtisch gelegen hatte und steckte ihn in das Futteral an seinem Gürtel.»Ich rate Ihnen, das nicht noch einmal zu sagen. Wie ist Ihre Adresse? Ich werde in den nächsten Tagen mal zu Ihnen kommen, vormittags gegen halb zehn Uhr.«

      Ich ging nach Hause, das volle Körbchen mit den Donnerstagsgaben am Arm, trockenen Auges, stellte mein Körbchen in die Küche und stand. Nach einer Stunde kam Gretchen aus dem Dienst. Wir weinten nicht, sprachen nicht.

      Der Tag ging zu Ende, und ein neuer [kam]. Gretchen ging wie immer in ihren Dienst, ich ging zu meinen Schülern. Wir sprachen mit niemandem von dem Entsetzlichen, nur Ludmilla und [die] Nataschas wußten es. Wir standen auf, aßen unser Stück Brot, stellten mittags Kartoffeln auf den elektrischen Kocher, legten uns abends in unsere Betten im gemeinsamen Zimmer. Soll er nur kommen, der Stütz. Wir werden uns nicht mehr verstecken. Mag er uns holen. Sie ist fort – fort. Wir wollen auch fort sein. – Er kam nicht.

      Die Tage wurden kürzer und dunkler. Im November ging ich ins Stadtkommissariat. Cramer hatte den Frauen jüdischer Männer gedroht, wenn sie sich nicht sofort scheiden ließen, werde er sie ins Ghetto stecken. Es war dabei gleichgültig, ob die Männer geflohen waren oder im Ghetto lebten oder tot waren. Ich hatte mich bis jetzt nicht zu dieser schändlichen Komödie entschließen können, ging nun aber doch. Eine Beamtin notierte die Daten. Am nächsten Tage bekam ich ein Zettelchen mit Schreibmaschinenvordruck, bekam einen Stempel mit Vermerk in meinen Paß und zahlte fünf Mark. Damit war die» Scheidung «vollzogen.

      In das Übersetzungsbüro war eine frühere Mitschülerin Gretchens [namens] Robaschenski gekommen, um ein Gesuch an Jordan schreiben zu lassen, in dem der Vater Robaschenski mit seinen beiden Töchtern bat, in der Stadt wohnen bleiben zu dürfen. Frau Robaschenski, Protestantin, aber jüdischer Abstammung, war nicht ins Ghetto umgezogen. Auf eine Anzeige war ihr Fall bekannt geworden. Eines Tages erschien die Polizei und verlangte, daß nicht nur die Frau, sondern auch der» arische «Mann, weil er sich nicht habe scheiden lassen, und die Mischlingstöchter binnen drei Tagen ins Ghetto zu ziehen hätten. Das Gesuch wurde von Jordan abschlägig beschieden.

      «Auf, ins Ghetto«, rief die ältere Tochter mit bitterem Hohn. Sie packten in Eile ihre Sachen, rüsteten [für] den Umzug, aber in der letzten Nacht trafen sie eine andere Entscheidung. Am Morgen fand man die vier Menschen tot in ihrer Wohnung. Sie hatten sich mit zwei Revolvern erschossen. Der Vater die jüngere Tochter und dann sich selbst. Die ältere, ein selten ernstes, charaktervolles Mädchen vor dem Selbstmord die Mutter. Die Tragödie dieser Familie – Mischehe mit halbwüchsigen, deutsch erzogenen Töchtern – , die in ihrer großen Verbundenheit manche Ähnlichkeit mit uns hatte, machte nicht nur uns tiefen Eindruck. Auch in der Stadt wurde sie erregt besprochen und die Härte und Willkür Jordans gemißbilligt.

      Ich lag die langen Nächte hellwach. Jeden Augenblick konnten sie kommen und uns holen. Wir kannten nun schon ihre rohen Gestalten, brutal und weichlich zugleich, ihre harten, lauten Stimmen. Sie würden kommen, uns holen, quälen und Schluß machen, ein Ende unserem Leid. Fort. – Neben mir hörte ich Gretchen tief und sanft atmen. Jeder Atemzug ist Leben. Hier schläft meine Kleine lebendig, unversehrt.

      Natascha


<p>46</p>

Da es im kyrillischen Alphabet kein» H «gibt, würde man den Namen» Holzman «in russischer Umschrift mit» G «oder» Ch«(kyrillisch Γ oder Χ) beginnen lassen.