Bettina Wendler seufzte. Auch ihr Mann wartete bereits.
»Die zwei Frauen aus der Klinik können wirklich morgen kommen. Das werde ich meinem Vater sagen.« Astrid ging auf die Verbindungstür zu.
»Da ist aber noch die junge Frau von auswärts«, gab Bettina zu bedenken. »Sie sagte mir, worum es geht. Sie will nur mit dem Chef selbst sprechen.«
»Es ist Feierabend! Die Sprechstunde ist schon lange beendet. Das muss sie einsehen. Papa kann doch wirklich nicht rund um die Uhr für seine Patienten da sein.«
»Diese junge Frau war noch nie hier. Sie ist noch nicht seine Patientin.« Bettina kannte ihren Chef gut, er hatte es noch nie fertiggebracht, jemanden wegzuschicken.
Astrid kreuzte die Arme vor der Brust. »Ich warte jedenfalls hier, und wenn die Patientin, die gerade bei meinem Vater ist, herauskommt, dann gehe ich hinein. Die zwei Frauen, die stationär behandelt werden, können Sie schon auf ihre Zimmer zurückschicken. Morgen ist auch noch ein Tag.«
Die Verbindungstür öffnete sich, eine Patientin kam heraus. Dr. Lindau folgte ihr. Sein Blick fiel auf seine Tochter. Er lächelte ihr zu. »An dich habe ich gerade gedacht.«
Astrid wartete noch, die Arme noch immer vor der Brust gekreuzt. Erst nachdem ihr Vater sich von der Patientin verabschiedet hatte, wandte er sich ihr zu. »Tut mir leid, Kind! Es hat wieder länger gedauert, als ich angenommen habe. Nun wird es aber‚ nicht mehr lange dauern. Du kannst bereits vorgehen, ich komme bald nach.«
»Nein! Diesmal nehme ich dich gleich mit. Was glaubst du, wie enttäuscht dein Enkel ist, wenn ich wieder einmal ohne dich ankomme?«
»Es sind nur noch drei Frauen im Warteraum«, mischte sich Bettina ein. »Bei zweien handelt es sich um Frau Martell und Frau Kugler. Beide sind noch in stationärer Behandlung.«
»Ich habe schon gesagt, dass die beiden Frauen morgen nochmals kommen sollen. Papa, du hast auch ein Anrecht auf einen Feierabend, und wenn du nicht an dich denkst, dann denke an deine Mitarbeiter.«
»Natürlich!« Der Chefarzt blickte entschuldigend auf seine Assistentin. »Sie können Feierabend machen. Frau Martell und Frau Kugler sehe ich mir morgen an. Sprachen Sie vorhin nicht noch von einer dritten Patientin?«
»Ja! Für diese Frau konnte ich noch keine Karteikarte anlegen. Sie wollte mir nicht sagen, warum sie hier ist. Sie scheint Sie zu kennen, Herr Doktor. Ich habe aber bereits nachgesehen, als Patientin war sie noch nie in unserer Klinik.«
»Papa, wir schicken die Frau weg. Sie kann doch auch morgen wiederkommen.« Astrid schob ihre Unterlippe nach vorn.
»Der Name? Vielleicht kenne ich sie wirklich.« Dr. Lindau runzelte die Stirn.
Frau Wendler griff nach dem Blatt Papier, auf das sie Name und Anschrift notiert hatte. »Die Frau kommt von Rosenheim, sie heißt Baldau.«
»Sonja Baldau? Sie sitzt im Wartezimmer?« Dr. Lindau wollte es nicht glauben.
Bettina nickte.
»Schicken Sie die anderen beiden Frauen auf die Station zurück. Frau Baldau bitten Sie jedoch herein.«
»Papa!« Astrid nahm vor ihrem Vater Aufstellung. »Dein Enkel wartet. Du hast hoch und heilig versprochen, mit mir mitzukommen.«
»Das mache ich auch! Ich freue mich doch auf diesen Abend. Ich muss nur zuerst noch mit Frau Baldau sprechen. Ich habe dir doch von der Frau erzählt.«
»Baldau?« Astrid zuckte die Achseln. Sie konnte sich im Moment wirklich nicht für irgendeine Patientin erwärmen. Zu Hause wartete ihr kleiner Sohn.
»Bettina, führen Sie bitte Frau Baldau herein.«
Astrid dachte gar nicht daran, klein beizugeben. »Papa, seit einer Stunde ist deine Sprechstunde zu Ende. Vor Wochen hatten wir ausgemacht, diesen Abend gemeinsam zu verbringen. Ich denke gar nicht daran, ihn erneut zu verschieben. Deine Patienten müssen endlich einmal einsehen, dass auch du einen Feierabend hast.«
»Astrid, bitte!« Beschwörend hob der Chefarzt die Hände, denn Sonja Baldau betrat bereits den Raum.
»Nein, Papa!« Astrid ließ sich nicht bremsen. »Es ist siebzehn Uhr, vor einer Stunde wolltest du hier Schluss machen.«
In die Stille hinein, die ihren heftigen Worten folgte, sagte Sonja Baldau: »Verzeihen Sie, Herr Doktor! Ich nehme an, Sie erinnern sich noch an mich, jedenfalls hat mir mein Mann Ihre Grüße ausgerichtet.«
»Selbstverständlich, Frau Baldau! Kommen Sie nur weiter.« Dr. Lindau machte eine einladende Geste in Richtung auf die geöffnete Verbindungstür.
Sonja schüttelte den Kopf. »Wenn es Ihnen recht ist, dann komme ich morgen wieder. Ihre Tochter hat recht, ich hätte selbst daran denken müssen, dass Ihre Sprechzeit bereits zu Ende ist.«
»Das spielt doch jetzt keine Rolle. Ich bin heute bei meiner Tochter eingeladen. Sie kann schon vorausgehen, ich komme dann nach.«
»Natürlich, Papa!« Astrid war verlegen geworden. Inzwischen war ihr eingefallen, wer die junge Frau war. Auch ihr hatte der Vater von dem jungen Ehepaar erzählt.
»Nein, bitte, bleiben Sie! Ich kann wirklich morgen wiederkommen. Es ist nicht dringend. Ich wollte nur …«
»Sie wollten in meine Sprechstunde«, ergänzte Dr. Lindau, nachdem Sonja schwieg. »Wollten Sie mich als Arzt konsultieren?«
»Nein, ja …, ich dachte …« Sonja schluckte. »Herr Doktor! Ich komme morgen wieder. Es hat wirklich Zeit.«
»Sie wollen doch nicht unverrichteter Dinge nach Rosenheim zurückfahren?«
»Ich fahre nicht nach Rosenheim zurück, jedenfalls heute nicht. Ich habe mir im Hotel Goldener Anker ein Zimmer genommen.«
»Sie wollen hierbleiben?« Dr. Lindau war überrascht. Er sah zu seiner Tochter hin. Astrid verstand sofort.
»Bis später, Papa!«
»Nein, bitte!« Sonja vertrat ihr den Weg. »Ich will Ihren Vater jetzt nicht länger aufhalten. Ich werde morgen mit ihm sprechen.«
»Es tut mir leid!« Astrid sah die junge Frau an. »Mein Vater kennt nie einen Feierabend, er lebt für seinen Beruf. Wenn Sie irgendwelche Beschwerden haben, dann sprechen Sie doch jetzt gleich mit ihm.«
Sonja schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Beschwerden, jetzt jedenfalls nicht. Morgen, ich werde morgen mit Ihrem Vater sprechen. Einen schönen Abend noch!« Sie eilte an Astrid vorbei.
»Frau Baldau«, rief der Chefarzt, aber da hatte Sonja schon das Zimmer verlassen.
»Tut mir leid, Papa!« Astrid hatte sich umgedreht. »Soll ich ihr nachlaufen?«
»Ich glaube, das hätte keinen Sinn.« Dr. Lindau versuchte zu lächeln. »Wenn Frau Baldau nicht reden will, dann redet sie nicht. Diese Erfahrung habe ich schon gemacht.«
»Was willst du dann tun?«
Dr. Lindau ging auf seine Tochter zu. »Genau das, was du vorhin vorgeschlagen hast. Wir machen Schluss für heute und sehen zu, dass wir zu dir kommen.«
»Und Frau Baldau?« Jetzt war es Astrid, die zögerte.
»Ich nehme an, dass sie morgen wiederkommt, sonst werde ich im Goldenen Anker anrufen.« Er legte seiner Tochter die Hand auf die Schulter. »Ich gebe zu, dass ich in letzter Zeit öfter an dieses junge Ehepaar gedacht habe. Jetzt jedoch können alle Probleme bis morgen warten. Bettina, es ist Feierabend, Sie können gehen. Ich schließe den Medikamentenschrank ab.«
Bettina war erleichtert. Sogleich schlüpfte sie aus ihrem weißen Mantel. »Bis morgen! Auf Wiedersehen, Herr Doktor, Frau Doktor!« Und schon war sie weg. Kurze Zeit darauf verließ auch Astrid in Begleitung ihres Vaters die Klinik.
*
Dr.