»Aber die Diagnose …«, stotterte Christine.
»Die war falsch«, fiel Dr. Göttler der Patientin ins Wort und erklärte ihr mit einigen verständlichen Worten, wie das möglich gewesen war.
Christine starrte an die Decke. Sie brauchte eine Weile, um das alles zu verarbeiten. Eigentlich hätte sie sich jetzt freuen müssen. Merkwürdigerweise aber verspürte sie keine solchen Empfindungen in ihrem Innern. Sie glaubte zwar den Worten der beiden Ärzte, aber trotzdem wollte kein richtiges Glücksgefühl bei ihr aufkommen. Ihr Leben würde also weitergehen, aber was war das für ein Leben, wenn sie ihren Hannes nicht mehr hatte?
Überrascht bemerkte Dr. Bernau, dass die Augen der jungen Frau plötzlich feucht wurden, wie ihr ein paar dicke Tränen über die Wangen liefen. Tränen der Erleichterung?
Auch Dr. Göttler entging die Reaktion der Patientin nicht. »Ich glaube, wir lassen sie jetzt allein«, raunte er dem Kollegen Bernau zu. »Sie muss ihre innere Spannung erst überwinden, und das wird sie sehr schnell.«
Dr. Bernau nickte. Sanft legte er seine Hand auf Christines Arm. »Kopf hoch, Frau Häußler«, sagte er lächelnd. »Es geht bergauf, und in zwei Wochen haben Sie das alles wieder vergessen. Es war ein böser Traum für Sie.«
Christine gab keine Antwort. Ein böser Traum, fragte sie sich in Gedanken. Wegen einer falschen Diagnose wollte ich mir das Leben nehmen? Nein, nicht deswegen allein, korrigierte sie aber sofort wieder ihre blitzschnellen Überlegungen, sondern weil Hannes mich im Stich gelassen hat und nichts mehr von mir wissen wollte. »Hannes …«, kam es kaum hörbar über ihre Lippen.
Dr. Bernau vernahm es aber trotzdem. Er stutzte einen Augenblick, nickte dann aber Dr. Göttler zu und verließ mit ihm das Krankenzimmer.
»Ich hatte eigentlich etwas mehr Freude von der jungen Dame erwartet«, meinte Dr. Göttler, als er neben Dr. Bernau dem Stationszimmer zuschritt. »Es ist immerhin keine Alltäglichkeit, wenn einem erklärt wird, dass man nicht an einer todbringenden Krankheit leidet. Würde mir Derartiges widerfahren, ich glaube, ich würde vor Freude jubeln. Da kann man wieder einmal sehen«, fuhr er fort, »was eine falsche Diagnose, die zwar nicht einer Untüchtigkeit oder Oberflächlichkeit des untersuchenden Arztes entspringt, für Folgen haben kann.«
Dr. Bernau fuhr aus seinen Gedanken hoch. »Wie meinen Sie das?«, fragte er.
»Nun, ich denke an den Selbstmordversuch der Patientin, den sie ja unternommen hat, als sie erfuhr, dass eine Leukämie ihr Leben bedroht«, erwiderte Dr. Göttler. »Sie haben mir doch selbst davon erzählt.«
»Ach, das meinen Sie.« Dr. Bernau wurde wieder nachdenklich. Er fragte sich erneut, ob es nicht doch noch einen anderen Grund für Christine Häußler gab, sich das Leben nehmen zu wollen. Er musste plötzlich wieder an jenen Hannes denken, dessen Namen die Patientin vorhin geflüstert hatte – irgendwie klagend und schon fast verzweifelt. In Gedanken erlebte er im Zeitraffertempo noch einmal die Szene vor einigen Tagen im Büro des Kinderferienheims in Rottach. War bei Christine Häußlers Handlungsweise vielleicht auch eine unglückliche Liebe mit im Spiel gewesen? Diese Frage ließ ihn nicht mehr los, und es drängte ihn, das herauszufinden. Wenn es so war, dann war es sogar ein wenig verständlich, dass die Patientin nicht in Jubel ausgebrochen war, als sie von der guten Wendung hinsichtlich ihres angenommenen Leidens erfuhr.
Dr. Bernau nahm sich vor, Christine Häußler von ihrer seelischen Last zu befreien – wenn es eine solche geben sollte. Auf eine ganz bestimmte Weise mochte er die junge Frau, konnte sie gut leiden. Nicht wie ein Mann eine begehrenswerte Frau, sondern mehr wie ein Bruder eine Schwester oder ein Freund den anderen. Er wollte zumindest versuchen, ihr zu helfen. Wie das geschehen sollte oder konnte, wusste er in diesen Sekunden nicht. Dazu musste er erst mehr wissen, musste sie dazu bringen, sich auszusprechen.
»Wir sehen uns nachher, Herr Kollege«, sagte er zu Dr. Göttler, der das Stationszimmer ansteuerte, während er seinen Weg zu seinem Dienstzimmer fortsetzte.
*
»Ich verstehe das nicht«, meinte Dr. Lindau zu Dr. Bernau, als er mit dem nach der Visite dem Ärztezimmer zuschritt. »Seit vorgestern weiß die Patientin, dass sie nur eine Viruserkrankung hat und keine lebensgefährdende Leukämie. Sie müsste normalerweise in einer Art Hochstimmung sein, aber nein – sie resigniert und ist verschlossen. Die inzwischen festgestellte Mononukleose ist im Schwinden, und dennoch ist bei der Patientin nicht der geringste Ansatz einer Freude oder zumindest einer Erleichterung über die kurz bevorstehende Heilung zu bemerken.«
»Ja, die Antibiotika haben angesprochen«, entgegnete Dr. Bernau, der ein wenig abwesend wirkte. Das aber war wiederum verständlich, denn er machte sich seine Gedanken über Christine Häußlers in sich gekehrtes Verhalten.
»Lenken Sie nicht ab, Herr Bernau«, gab der Chefarzt zurück. »Ich möchte wissen, was mit der Frau los ist. Etwas stimmt bei ihr nicht. Sie ist meiner Meinung nach weniger organisch krank als seelisch. Ich bin sicher, dass sie mit einem Problem nicht fertig wird, und das nimmt ihr den Lebensmut.«
Dieser Ansicht war Dr. Bernau auch. Seit vorgestern, also seit dem Tag, an dem er zusammen mit Dr. Göttler die Patientin über die falsche Diagnose informiert hatte, war er noch etliche Male bei ihr gewesen und hatte versucht, sie aufzumuntern und den Grund ihrer Resignation herauszubekommen. Das aber war bisher vergeblich gewesen.
»Ich werde das Gefühl nicht los, als ob die Frau gar nicht mehr weiterleben möchte«, meinte Dr. Lindau.
»Sie denken an eine Wiederholung …« Dr. Bernau wagte nicht auszusprechen, was ihm eben in den Sinn gekommen war.
Dr. Lindau nickte. »Auszuschließen ist es nicht«, erwiderte er in ernstem Ton. »Wenn sich der Zustand der Patientin nicht schleunigst bessert, werde ich sie wohl oder übel in psychiatrische Behandlung überweisen müssen. Ich bin Frauenarzt, und wir haben eine Frauenklinik«, fügte er bedeutungsvoll hinzu. »Ich bin nun einmal kein Seelenarzt.«
»Ich auch nicht«, gab Dr. Bernau zurück, »aber ich will versuchen, den Grund von Frau Häußlers Resignation herauszubekommen. Ich habe da so eine Ahnung …«
»So? Liebeskummer vielleicht?«, fragte Dr. Lindau.
»Ich halte es für möglich, obwohl die Patientin nicht darüber spricht«, erwiderte Dr. Bernau.
»Bemühen Sie sich«, entgegnete der Chefarzt, »denn Sie wissen ebenso wie ich, dass sich eine solche …, nun, sagen wir mal … Lebensüberdrüssigkeit sehr oft negativ auf die Heilung einer Krankheit auswirken kann – von einer Wiederholung eines Selbstmordversuches gar nicht zu sprechen.«
»Ich tue, was ich kann«, versicherte Dr. Bernau.
»Tun Sie das«, ermunterte der Chefarzt seinen Mitarbeiter. »Ein paar Tage warte ich noch mit der Einweisung in die Psychiatrie.«
Dr. Bernau hielt sich an seine Worte. Gleich nach der Ärztebesprechung begab er sich zu Christine Häußler. Ruhig redete er auf sie ein und stellte diese und jene Fragen, die sich vor allem auf die nächste und weitere Zukunft der jungen Frau bezogen. Er wollte damit erreichen, dass Christine ihre innere Hemmschwelle überwand und sich ihm mitteilte. Zufrieden konstatierte er, dass die Heimleiterin auch ein wenig auf diese Art des Gespräches, das eher einer privaten Unterhaltung zwischen Freunden ähnelte als der Konsultation eines Arztes, insbesondere eines Psychiaters, einging.
»Werden Sie nach der Entlassung wieder in Ihr Kinderheim zurückgehen?«, fragte Dr. Bernau.
»Ich …, ich … weiß nicht«, antwortete Christine mit schwacher Stimme. Sie hatte darüber tatsächlich schon nachgedacht. Der Gedanke und die Vorstellung aber, dass sie dann in unmittelbarer Nähe von Hannes sein würde, ihn auch sicher oft zu Gesicht bekam, ohne mit ihm in der bisherigen Weise sprechen und verkehren zu dürfen, bereitete ihr einen tiefen Schmerz. Nach wie vor liebte sie ihn doch. Jetzt wahrscheinlich noch mehr, nachdem sie ihn und seine Zuneigung verloren hatte. Das tat