Christine nickte.
»Sie möchten doch sicher auch eines Tages eigene haben?«
Die Patientin blickte geradeaus. »Ja, das möchte ich«, hauchte sie.
»Und?«, hakte Dr. Bernau nach. »Werden Sie denn bald heiraten?«
Christine zuckte zusammen. »Weshalb fragen Sie?«, flüsterte sie.
»Nun, ich dachte nur daran, dass es doch einen jungen Mann gibt, der etwas für Sie übrig hat«, wurde Dr. Bernau deutlicher. »Ich erinnere mich jedenfalls an meinen damaligen Besuch in Ihrem Büro. Sein Verhalten mir gegenüber war doch ziemlich aufschlussreich.« Prüfend blickte er die Patientin an.
»Hannes Hornegg«, kam es verhalten über die Lippen der jungen Frau. In ihren Augen stand plötzlich ein sehnsüchtiger matter Glanz. Sie schien vergessen zu haben, dass der Arzt neben ihrem Bett saß. Ihre Blicke verloren sich irgendwo in der Ferne, und mit klagender, fast weinerlicher Stimme stieß sie leise hervor: »Hannes …, ich liebe ihn doch, aber er …, er hat mich im Stich gelassen und will nichts mehr von mir wissen.« Sie schien Mühe zu haben, ihre Tränen zurückzuhalten.
Sinnend betrachtete Dr. Bernau die junge Frau. Nun wusste er, weshalb sie so unglücklich war, weshalb sie resignierte und keinen Lebensmut hatte. Es war die verlorene Liebe zu einem Mann, dem sie sehr zugetan war. Er glaubte sich nicht zu irren, wenn er jetzt annahm, dass das der wesentliche Grund dafür war, dass Christine Häußler vor einigen Tagen nach den Schlaftabletten gegriffen hatte. In einer Not, in der sie gerade den Zuspruch des ihr nahestehenden Menschen bitter nötig gehabt hätte, war sie von diesem im Stich gelassen worden, da hatte der ihr seine Liebe aufgekündigt. War es da ein Wunder, wenn sie ausgerastet war, dass sie in ihrer Verzweiflung, in ihrer seelischen Not in einer Kurzschlussreaktion ihr Leben beschließen wollte?
Dr. Bernau atmete erleichtert auf. Jetzt kannte er jedenfalls den Grund für die Resignation der jungen Frau, die ihr Leben anscheinend ohne den geliebten Mann für sinnlos hielt. Dabei schien es ihr erst in zweiter Linie von Bedeutung zu sein, ob sie an Leukämie oder einer anderen harmloseren Krankheit litt. »Dieser Herr Hornegg«, ergriff Dr. Bernau wieder das Wort, »weiß er denn nicht, dass Sie hier in der Klinik liegen?« Unwillkürlich musste er dabei an das nächtliche Erlebnis Dr. Göttlers auf dem Parkplatz denken. Er war sich nun sicher, dass es dieser Hannes Hornegg war, der den Kollegen Göttler belästigt hatte, in der Annahme, dass er, Werner Bernau, es war. Bestimmt hatte Hornegg geglaubt, dass Christine Häußler mit ihm, dem Arzt, zusammen war. Eifersucht trieb oft seltsame Blüten und regte die Fantasie zu den verrücktesten Vermutungen an.
»Ich glaube nicht«, beantwortete Christine flüsternd die letzte Frage des Arztes. »Aber auch wenn …, wenn er es wüsste …« Sie konnte nicht weitersprechen. Die Stimme versagte ihr.
In Dr. Bernaus Zügen arbeitete es. Die junge Frau tat ihm leid. Ihm war jetzt klar, was sie bedrückte und ihr den Lebenswillen nahm. Jener Hannes Hornegg war der Grund. Seinetwegen – und daran gab es für ihn keinen Zweifel mehr – hatte Christine Häußler nach den Schlaftabletten gegriffen und nicht hauptsächlich wegen ihrer falsch diagnostizierten Krankheit.
Zorn überkam Dr. Bernau – auf jenen Mann. Vom Standpunkt des Arztes aber sah er negative Auswirkungen auf den Gesundungsprozess, wenn Christine Häußler weiterhin ihrer Resignation nachgab und nicht den Willen aufbrachte, sich gegen ihre Krankheit aufzulehnen. Das aber würde sie nicht können, denn ihre Verzweiflung um den Verlust des geliebten Mannes nahm ihr die Kraft dazu. Der Arzt in ihm brauchte nicht erst lange zu überlegen, um zu wissen, was er zu tun hatte, was erforderlich war, die junge Frau aus ihrer Lethargie und ihrer Resignation zu reißen. Christine Häußler musste wieder an die Zweisamkeit mit ihrem geliebten Hannes glauben können.
Obwohl es keineswegs zu seinen Aufgaben und Pflichten als behandelnder Arzt gehörte, Schicksal zu spielen, es zumindest zu versuchen, war er in diesen Minuten dazu entschlossen. Er konnte einfach nicht über seinen eigenen Schatten springen. Zudem hatte er sich in diesem Fall aus ihm unerklärlichen Gründen schon zu stark engagiert. Er war jetzt entschlossen, der jungen Frau zu helfen, so gut er das eben konnte. Es war geradezu eine Herausforderung für ihn, Christine Häußler wieder die Freude am Leben zurückzugeben. Er wusste auch schon wie – nämlich indem er jenem Herrn Hornegg, von dem er wusste, dass er in Rottach ein Sportartikelgeschäft hatte, ernsthaft ins Gewissen redete.
Ja, ging es ihm durch den Sinn, und zwar heute noch, gleich nach Dienstschluss. Nicht telefonisch wollte er das tun, sondern persönlich, von Mann zu Mann. Bis Rottach war es ja nicht weit, und diesen Herrn Hornegg und dessen Geschäft würde er sehr schnell finden.
Sanft strich er der Patientin über den rechten Handrücken. »Es wird schon wieder alles gut werden, Frau Häußler«, redete er beruhigend auf die Patientin ein und erhob sich. »Versuchen Sie jetzt erst einmal, sich zu freuen, dass der bittere Kelch – ich meine damit die zuerst angenommene Krankheit – an Ihnen vorübergegangen ist. Wir sehen uns später.« Kein Wort davon, dass er mit diesem Hannes Hornegg ernsthaft zu reden beabsichtigte, kam über seine Lippen. Er wollte zuerst sehen, ob sein Vorgehen überhaupt Erfolg haben würde. Mit einem freundlichen Gruß verabschiedete er sich von der Patientin. Er hatte noch andere Patientinnen zu betreuen.
Die folgenden Stunden verdrängte er die Gedanken an Christine Häußler und konzentrierte sich auf seine Aufgaben. Kurz vor drei Uhr nachmittags aber musste er wieder an sie denken, als er Dr. Hoff bei einer Magenoperation assistieren musste und dabei hoffte, dass diese noch vor Dienstschluss beendet sein würde, damit er dann noch nach Rottach fahren konnte.
Seine Hoffnung erfüllte sich – eine Viertelstunde vor Dienstschluss war der Eingriff erfolgreich abgeschlossen. Wenig später war er dann im Begriff, die Klinik zu verlassen. In der Halle traf er mit Dr. Göttler zusammen.
»Wollen wir zusammen einen Kaffee in der Kantine trinken?«, fragte der.
»Ein andermal gern, Herr Kollege«, gab Dr. Bernau zurück. »Jetzt aber habe ich es eilig. Entschuldigen Sie bitte!« Er grüßte und setzte seinen Weg zum Parkplatz fort, bestieg seinen Wagen und fuhr nach Rottach.
*
Seit einer knappen halben Stunde war Hans-Günther Hornegg wieder zurück. Er hatte die Besprechungen in Salzburg vorangetrieben und erfolgreich abgeschlossen. Nicht eine Stunde länger als nötig hatte er in Salzburg bleiben wollen. Es hatte ihn nach Rottach zurückgezogen, weil ihm die Unruhe über Christines Verbleib arg zusetzte. In diesen anderthalb Tagen in Salzburg war ihm bewusst geworden, wie sehr er diese Frau doch liebte und wie nahe es ihm ging, dass er seit Tagen nichts mehr von ihr gehört und sie auch nicht gesehen hatte. Sein abweisendes Verhalten bei dem damaligen abendlichen Telefongespräch hatte er schon längst bereut. Wenn Christine jetzt bei ihm gewesen wäre, so hätte er sie sogar kniefällig um Verzeihung gebeten.
Aber Christine war nun einmal nicht da. Sie war nicht im Heim und auch nicht zu Hause. Kaum dass er nach seiner Rückkehr wieder sein Geschäft betreten hatte, war er ans Telefon geeilt und hatte zuerst im Heim angerufen.
»Frau Häußler ist immer noch krank«, hatte man ihm gesagt. Daraufhin hatte er bei ihr zu Hause angerufen. Vergeblich, denn niemand hatte sich gemeldet.
Böse starrte Hans-Günther Hornegg den Telefonapparat an, als wollte er den dafür verantwortlich machen, dass er Christine nicht erreichte. In seinem Inneren begann es wieder zu kochen.
Seine Eifersucht meldete sich erneut. Jener Klinikarzt fiel ihm ein. Sollte Christine wirklich mit dem zusammen sein? Hatte sie sich nur krank gemeldet, damit sie …? Er dachte den Gedanken nicht weiter, weil er es einfach nicht glauben wollte, was er vermutete.
»Ruhig bleiben, Hannes!«, versuchte er seine Eifersucht zu besänftigen. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass Christine so raffiniert und so kaltherzig war. Er wollte es nicht glauben. Dagegen traute er jenem Arzt zu, dass der seine Christine unter irgendeinem Vorwand, mit irgendwelchen Begründungen dazu gebracht hatte, mit ihm die Zeit zu verbringen.
»Na, wenn ich den zwischen die Finger