»Ich höre.« Dr. Lindau lehnte sich etwas zurück und wartete gespannt auf Dr. Göttlers Erklärungen.
Der legte zuerst die mitgebrachten Unterlagen über die letzte Blutuntersuchung auf den Schreibtisch des Chefarztes und referierte. »Wenn Sie sich bitte die vergrößerte Aufnahme betrachten wollen, Herr Chefarzt, dann werden Sie deutlich die Abweichungen an den Lymphozyten erkennen«, machte er Dr. Lindau darauf aufmerksam. »Danach scheidet eine akute Leukämie aus.«
Dr. Lindau neigte sich vor und sah sich die von Dr. Göttler vorgelegten Unterlagen genau an. Sekundenlang herrschte Stille im Sprechzimmer des Chefarztes. »Herrgott, ja – Sie scheinen recht zu haben, Herr Doktor Göttler«, kam es dann über Dr. Lindaus Lippen. »Das Blutbild sieht wirklich nicht nach Leukämie aus.«
»Es ist auch keine«, erklärte Dr. Göttler selbstbewusst. »Mein Vater meint, dass es sich um eine sogenannte infektiöse Mononukleose handelt, und ich bin auch seiner Meinung.«
»Mononukleose«, wiederholte Dr. Lindau. »Das ist mir ein Begriff, obwohl ich damit noch nichts zu tun hatte. Eine Viruserkrankung jedenfalls. Hm …, meine Anerkennung, Herr Kollege«, lobte er Dr. Göttler. »Das war ein guter Einstand in meiner Klinik«, setzte er mit einem schwachen Lächeln hinzu. Doch sofort wurde er wieder ernst. »Eine kleine Rüge kann ich Ihnen beiden aber nicht ersparen«, sprach er weiter und sah die beiden Ärzte abwechselnd an. »Ich finde es nicht ganz korrekt, dass ohne mein Wissen und ohne meine Zustimmung das Blut einer unserer Patientinnen außer Haus untersucht und analysiert wurde. Weshalb wurde mir nichts davon gesagt?«, fragte er.
Dr. Bernau und Dr. Göttler wechselten einen kurzen Blick miteinander. Dann ergriff der letztere das Wort. »Es war meine Idee, Herr Chefarzt«, gestand er. »Der Kollege Bernau wollte Sie ja zuerst informieren, als ich von meiner Vermutung sprach, aber ich habe es abgeblockt.«
»Weshalb?«, wollte Dr. Lindau wissen. »Haben Sie den Eindruck, dass man mit mir nicht reden kann?«
»Nein, so ist das nicht«, entgegnete Dr. Göttler. »Aber ich wollte mich halt nicht blamieren. Es hätte ja sein können, dass ich mich irrte.«
»Verstehe«, murmelte Dr. Lindau. »Tatsache ist nun, dass wir einer falschen Diagnose gefolgt sind, die sich jetzt allerdings als Glücksfall für die Patientin herausgestellt hat. Tja, meine Herren, dann tun Sie jetzt, was Sie nicht lassen können«, fügte er hinzu. »Bringen Sie der Patientin die gute Nachricht, von der ich nun hoffe, dass sie sich günstig auf ihre Teilnahmslosigkeit auswirkt.«
»Wir dachten, dass Sie vielleicht Frau Häußler …«
Dr. Lindau unterbrach Dr. Bernau. »Ich?«, fragte er und schüttelte den Kopf. »Nein, meine Herren, das überlasse ich Ihnen«, erklärte er. »Schließlich haben Sie das ja herausgefunden, also steht es Ihnen auch zu, die Patientin zu informieren, ihr die freudige Nachricht zu überbringen.« Ostentativ blickte er auf die Uhr. »Außerdem habe ich Patienten im Wartezimmer«, gab er den beiden Ärzten zu verstehen.
Dr. Bernau hatte verstanden. »Tja, dann wollen wir mal«, sagte er zu Dr. Göttler gewandt und schritt zur Tür. Sein Kollege schloss sich ihm an.
»Meine Herren«, hielt Dr. Lindau die beiden Mediziner noch einen Augenblick zurück, »ich möchte Ihnen noch sagen, dass ich Eigeninitiativen bei einem Arzt wohl schätze, aber solche nicht zur Gewohnheit werden lassen möchte – jedenfalls nicht so lange, wie ich als Chefarzt dieser Klinik Entscheidungen zu treffen habe.« Er winkte den beiden Ärzten lächelnd zu und rief dann nach seiner Assistentin, als Dr. Bernau und sein Kollege Göttler gegangen waren.
»Wir können beginnen, Frau Wendler.«
*
Geistesabwesend sah Christine Häußler die beiden Ärzte an, die eben ihr Zimmer betreten hatten und nun neben ihrem Bett standen. Sie machte einen müden, erschlafften Eindruck. Die vergangene Nacht hatte sie wenig und unruhig geschlafen. Verwirrende Traumbilder hatten sie gepeinigt, und sie war geradezu froh gewesen, als der Morgen gekommen war. Mit dem anbrechenden Tag aber hatten sich die Gedanken an ihr Schicksal eingestellt. Ihre bisherige Teilnahmslosigkeit war dadurch zwar einigermaßen vertrieben worden, aber dafür, waren die Gedanken an das gekommen, was ihr bevorstand. Wie viel Zeit hatte sie noch bis zum Sterben? Diese Frage bohrte in ihr. Drei Monate? Oder vier, vielleicht fünf oder auch sechs? Resignation machte sich in ihr breit.
Es war aber nicht allein das Wissen darum, dass sie an Leukämie erkrankt war und dass ihr Leben dadurch über kurz oder lang ein Ende nehmen würde. Da war das andere, das ihr mindestens genauso stark zusetzte und sie verzweifelt machte – die abweisende Haltung von Hannes nämlich. Sie kam einfach nicht darüber hinweg, dass er, als sie ihn so nötig gebraucht hatte, sich von ihr abwandte. Dass sie ihn und seine Liebe verloren hatte, war für sie noch schlimmer und schmerzlicher als das Wissen um ihr Leiden. Sie erinnerte sich an die Minuten, in denen sie mit Hannes telefoniert und um sein Kommen gebeten hatte. Es waren die schrecklichsten Augenblicke in ihrem Leben gewesen. Der Mann, den sie liebte – und das war ihr eben in jenen Minuten mehr als deutlich klar geworden – hatte sich von ihr abgewandt, hatte sie in ihrer Not im Stich gelassen. Er hatte ihrem Leben, so kurz dieses nach der furchtbaren Diagnose auch sein mochte, den Sinn genommen.
Christine bereute an diesem Morgen, dass man sie nach der Einnahme der Schlaftabletten wieder ins Leben zurückgeholt hatte.
»Wie fühlen Sie sich, Frau Häußler?« Dr. Bernau tastete lächelnd nach dem Handgelenk der Patientin, um den Pulsschlag zu kontrollieren. Zufrieden nickte er nach einigen Sekunden. »Sie machen sich«, sagte er und wiederholte seine Frage nach dem Befinden.
»Wie soll man sich als Todeskandidat fühlen, Herr Doktor?«, gab Christine mit leiser Stimme fragend zurück. »Mir ist alles egal.«
Dr. Bernau sah den ihn begleitenden Kollegen Göttler bedeutungsvoll an. Sieh an, schien sein Blick zu sagen, unsere Patientin spricht jetzt sogar mit uns. Sofort aber wandte er sich wieder der jungen Frau zu. »Von wegen Todeskandidat«, redete er auf Christine ein. »Das vergessen Sie sehr schnell wieder!«
»Ich habe es aber gelesen, dass ich nicht mehr allzu lange zu leben habe«, beharrte Christine auf ihrer Meinung. Stockend und in einem verzweifelten Tonfall kamen die Worte über ihre Lippen.
»Wo haben Sie denn das gelesen?«, fragte Dr. Bernau.
In Christines Augen trat ein etwas lebhafterer Ausdruck. »In …, in …«, brachte sie hervor, überlegte kurz und nannte dann den Titel des medizinischen Werkes, in dem sie sich über das bei ihr von Dr. Pröll diagnostizierte Leiden und dessen Auswirkungen informiert hatte.
Dr. Bernau kannte dieses Buch nicht. Jedenfalls konnte er sich im Augenblick nicht darauf entsinnen. Dagegen war es Dr. Göttler nicht unbekannt, und der ergriff auch gleich das Wort.
»Frau Häußler«, wandte er sich direkt an die Patientin, »dieses Lehrbuch, das Sie da anführen, ist eine veraltete Ausgabe. Anders ausgedrückt – etliches darin ist durch neue medizinische Erkenntnisse überholt wurden. Das trifft auch bei Leukämie zu. Ich kenne das Werk und entsinne mich, dass da etwas von einer Überlebenszeit von etwa vier Monaten steht.«
»Ja …«, flüsterte Christine.
»Das ist aber nicht mehr richtig«, belehrte Dr, Göttler die junge Frau. »An Leukämie Erkrankte können durchaus noch jahrelang leben, sofern rechtzeitig und gezielt mit der Behandlung begonnen wird.«
Zweifelnd sah Christine den Arzt an. »Sie wollen mich jetzt ja nur trösten oder aufmuntern«, entgegnete sie stockend.
»Keineswegs«, schaltete sich Dr. Bernau wieder in das Gespräch ein. »Frau Häußler, wir sind jetzt bei Ihnen, weil wir Ihnen eine gute Nachricht überbringen wollen – eine nochmalige Untersuchung Ihres Blutes hat einwandfrei ergeben, dass Sie gar nicht an Leukämie erkrankt sind. Was sagen Sie nun?«
Christine starrte den Arzt ungläubig an. In ihren Zügen zuckte es. Ihre Lider flatterten. »Wenn das ein Scherz sein soll, so ist das aber ein schlechter«, stieß sie heiser hervor.
Dr.