»Das geht schon in Ordnung«, entgegnete Dr. Bernau. »Unser neuer Kollege, den der Chef auch auf den Leukämiefall angesetzt hat, möchte sich nur noch einmal selbst überzeugen. Bitte, Herr Kollege«, wandte er sich an Dr. Göttler. »Sehen Sie selbst.«
»Danke.« Dr. Göttler presste das Auge an das Mikroskopokular und stellte die Schärfe ein. Lange blickte er hindurch.
Fragend sah die Laborantin Dr. Bernau an. Der zuckte nur wortlos mit den Schultern.
Da richtete sich Dr. Göttler wieder auf. Zu Dr. Bernau gewandt, forderte er diesen auf: »Schauen Sie einmal durch!«
Schweigend kam Dr. Bernau dieser Aufforderung nach.
»Nun? Was sehen Sie, Herr Kollege?«, fragte Dr. Göttler.
»Das, was ich gestern schon gesehen habe«, erwiderte Dr. Bernau und drehte sich zu Dr. Göttler hin. »Veränderte Lymphozyten. Typisch für eine Leukämie.«
»Stimmt«, entgegnete Dr. Göttler. »So sehen sie aus.«
»So sehen sie aus?« Erstaunt sah Dr. Bernau den Kollegen an. »Was wollen Sie damit sagen?«
Dr. Göttler zögerte etwas mit der Antwort. »Ich weiß nicht, ob ich mich irre«, ergriff er dann das Wort, »aber mir kommt es vor, als gäbe es einige winzige, kaum erkennbare Abweichungen, die andere Schlussfolgerungen zulassen könnten.«
»Na, erlauben Sie mal«, fuhr Dr. Bernau auf, mäßigte sich aber sofort wieder. »Ein Irrtum scheint mir doch etwas weit hergeholt zu sein. Was könnte es denn Ihrer Meinung nach sein?«, wurde er neugierig.
»Ich kann es nicht sagen«, gab Dr. Göttler zurück. »Dazu müsste man eine Vergrößerung des Mikrobildes haben.«
Dr. Bernau lächelte verhalten. »Herr Göttler, Ihre Kenntnisse der Hämatologie in allen Ehren, aber jetzt irren Sie sich bestimmt. Unser Mikroskop ist zwar nicht die allerneueste Ausführung, aber es gibt klar und präzise Werte für eine Diagnose wider.«
»Mein Vater hat in seiner Klinik das neueste Modell eines Elektronenmikroskops mit Vergrößerungsmöglichkeiten und Fotoeinrichtung«, sagte Dr. Göttler. »Ein Spezialapparat für Blutuntersuchungen.«
»Und? Was wollen Sie damit nun zum Ausdruck bringen?«, fragte Dr. Bernau mit leisem Unmut in der Stimme. Er konnte Besserwisser nicht ausstehen, und in diesen Sekunden hielt er den Professorensohn doch ein wenig für einen solchen.
»Ich wollte damit sagen, dass ich diese Blutprobe gar zu gern einmal unter dem Mikroskop meines Vaters untersucht hätte«, erklärte Dr. Göttler ruhig und sah Dr. Bernau fest an.
»Wozu sollte das gut sein?« Das Verhalten des neuen Kollegen, der den ersten Tag tätig war, irritierte Dr. Bernau ein wenig. »Die Diagnose steht doch schon fest.«
»Sind Sie sich dessen so hundertprozentig sicher?«, gab Dr. Göttler fragend zurück. »Irrtümer können doch nie vollkommen ausgeschlossen werden. Beispiele dafür gibt es doch.«
»Zugegeben, die gibt es«, räumte Dr. Bernau ein. »In diesem Fall scheint doch aber alles klar zu sein.«
»Scheint, das ist das richtige Wort«, entgegnete Dr. Göttler. »Ist es aber auch wirklich?«
»Ich …, ich weiß nicht …«, murmelte Dr. Bernau. Ein merkwürdiges Gefühl bemächtigte sich seiner. Wenn Dr. Göttler nun recht behielt mit seiner doch etwas vagen Annahme? Irgendwie imponierte es ihm, wie der seine Meinung, seinen Standpunkt vertrat. Nach wie vor aber war er von der Richtigkeit der bereits gestellten Diagnose überzeugt. Abweichungen, dachte er, davon habe ich nichts bemerkt und sicherlich auch nicht Dr. Pröll aus Schliersee. »Tja, was soll ich dazu sagen«, meinte er. »Wäre es nicht besser, wenn Sie Ihre Ansicht dem Chef vortragen würden?«, fragte er.
Dr. Göttler schüttelte den Kopf. »Das möchte ich eben nicht«, erklärte er. »Es könnte ja durchaus sein, dass ich mich auf dem Holzweg befinde, und das wäre dann kein sehr guter Einstand für einen Arzt, der neu in einer Klinik anfängt. Das müssen Sie doch zugeben.«
Dr. Bernau nickte. In diesem Punkt gab er dem Kollegen recht. Nachdenklich sah er Dr. Göttler an. Sekundenlang überlegte er. »Es steht Ihnen natürlich frei, nach Dienstschluss hinzufahren, wohin Sie möchten«, ergriff er dann entschlossen das Wort. »Dass ich nicht kompetent bin, Sie zu beauftragen, eine Blutuntersuchung in einer anderen Klinik vorzunehmen, das dürfte Ihnen doch wohl klar sein.«
Dr. Göttler hatte verstanden. Verschmitzt lächelte er. »Da ich mich aber laut dem Chefarzt für diesen Fall interessieren soll, dürften Sie wohl auch nichts dagegen haben, wenn ich der Patientin noch einmal eine Blutprobe entnehme«, sagte er.
Das hatte nun wieder Dr. Bernau sehr gut verstanden. »Dagegen ist vom medizinischen Standpunkt aus nichts einzuwenden«, erwiderte er und feixte verstohlen.
»Dann sind wir uns also einig, Herr Kollege, und ich brauche nicht erst den Chefarzt zu informieren«, meinte Dr. Göttler.
»Wegen der Entnahme einer Blutprobe – nein«, versicherte Dr. Bernau, drehte sich um und rief der im Hintergrund des Labors beschäftigten Laborassistentin eine entsprechende Weisung zu. »Die Blutprobe übergeben Sie dann Herrn Doktor Göttler.« Er sah den Kollegen fragend an. »Wann wollen Sie sie haben?«, wollte er wissen.
»Am besten nachmittags, nach drei Uhr jedenfalls«, erwiderte Dr. Göttler.
So geschah es dann auch. Um 15 Uhr 30 nahm Dr. Göttler die Blutprobe entgegen. Dr. Bernau sah den Kollegen durchs Fenster unmittelbar nach Dienstschluss vom Parkplatz abfahren. Verblüfft stellte er dabei fest, dass Dr. Göttler den gleichen Wagen wie er selbst fuhr. Sogar die Farbe – metallicbraun – war die gleiche.
*
Zwei Tage hatte Hans-Günther Hornegg gebraucht, um mit sich einigermaßen ins Reine zu kommen. Obwohl in ihm immer noch ein Rest von Eifersucht schlummerte, der beim kleinsten Anlass wieder geweckt würde, begann er jetzt doch mehr und mehr einzusehen, dass er nicht ganz richtig an Christine gehandelt hatte. Mehr noch – er ärgerte sich nun über sich selbst, dass er so kühl und abweisend am Telefon gewesen war.
Zwei Tage hatte er nun nichts mehr von ihr gehört. Natürlich wäre es ein Leichtes gewesen, einfach hinüber ins Heim zu gehen, so wie er das bisher öfters in der Mittagszeit getan hatte, und mit Christine zu reden, sie auch zu bitten, dass sie ihm wieder gut sein sollte. Doch da war etwas in ihm, das ihn hemmte, diesen Bittgang, eine Art Canossagang, zu unternehmen. Er, der kraft- und gesundheitsstrotzende Ur-Bayer bildete sich ein, sich etwas zu vergeben, wenn er gewissermaßen zu Kreuze kroch. Dabei wusste er ziemlich genau, glaubte es jedenfalls nach einigem Nachdenken, dass er Christine eigentlich nichts vorwerfen konnte. Es war halt seine dumme Eifersucht, die ihm etwas vorgaukelte. Was war denn schon geschehen, stellte er sich die Frage. Im Grunde genommen nichts. Christine hatte Besuch gehabt. Von einem Arzt, wenn er richtig verstanden hatte. Er konnte sich sogar noch an den Namen dieses Arztes erinnern – ein Doktor Berner oder Bernach oder so ähnlich, aus der Klinik am See. So hatte Christine den Besucher jedenfalls vorgestellt.
Hans-Günther Hornegg kannte diese Klinik. Jedenfalls wusste er, wo sie war und dass sie früher einmal ein Schloss gewesen war. Was aber hatte Christine mit einem Arzt dieser Klinik zu tun? Diese Frage kam ihm immer wieder. Wenn sie in irgendeiner Weise krank war, da hatte sie doch ihren Hausarzt, den Dr. Pröll aus Schliersee. Das wusste er von ihr selber. Folglich konnte zwischen Christine und jenem Arzt aus der Klinik am See nur eine private Verbindung bestehen, redete er sich in seiner Eifersucht ein. Woher und seit wann kannte Christine diesen Mann? Auch diese Frage ließ Hornegg keine Ruhe. Er vergegenwärtigte sich noch einmal die Situation, als er in Christines Büro gekommen war, und wieder wollte Zorn in ihm hochkommen.
Doch dann dachte er wieder an das Telefongespräch mit Christine und fragte sich, weshalb Christine ihn angerufen und um sein Kommen gebeten hatte. Weshalb hatte sie sich nicht an jenen Arzt gewandt, der ihr in irgendeiner Weise nahestand, wie es für ihn den Anschein hatte?