ONE TO GO - Auf Leben und Tod. Mike Pace. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Mike Pace
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958351271
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war es Jess, die sich fragte, was wohl passiert war. Er holte das Handy aus der Tasche. Auf dem Display erschien das Video eines jungen Paares, das winkte.

      O mein Gott. Chad und …

      Eine SMS tauchte über ihrem Bild auf: »Eine weniger.«

      »Tom, stimmt was nicht?«, fragte Gayle. »Du siehst aus, als hättest du gerade einen Geist gesehen.«

      Tom drückte auf Rückruf. Nichts passierte. Das lächelnde Paar winkte weiter. Er schaltete das Telefon aus, aber das Video blieb.

      Noch eine SMS: »Zwei Wochen.«

      Dann wurde das Display schwarz.

      Kapitel 9

      Tom lag angezogen auf seinem Bett und starrte an die Decke. Er war körperlich und geistig erschöpft und wusste, dass er Schlaf brauchte, aber das Durcheinander in seinem Kopf hinderte ihn daran. Außerdem hatte ein Teil von ihm Angst davor, einzuschlafen. Wovon würde er träumen? Was würde er sehen? Wen würde er sehen?

      Er musste mit jemandem reden. Aber mit wem? Und was konnte er sagen, damit man ihm glaubte? Die Antwort hierauf war einfach – nichts.

      Er zog umgehend die Möglichkeit in Betracht, dass die Nachricht auf dem Handy eine weitere Halluzination gewesen sein könnte. Aber er hatte keine Kopfverletzungen erlitten, er war hellwach gewesen und er hatte keine seltsamen Drogen eingeworfen, nur ein bisschen irisches Bier und griechischen Schnaps. Und was, wenn die geringe Chance bestand, dass er nicht halluzinierte und seine Tochter in zwei Wochen tatsächlich sterben würde? Würde das reichen, damit er etwas tat? Die Bedrohung ernst nehmen? Was, wenn die Chance ein Prozent betrug, dass die ganze Geschichte mit Chad und Brit echt war?

      Sein Rücken versteifte sich und er rollte sich auf die Seite. Logik. Er war Anwalt, geschult, ein Problem logisch anzugehen. Okay, der Argumentation halber musste er annehmen, dass eine geringe Chance bestand, dass er nicht halluzinierte. Wie hätte man schließlich vorhersehen können, dass Rosie an dem Morgen gefahren ist und dass Gino Battaglia, der bis dahin nichts außer Liebe und Respekt für seine Frau übrig gehabt hatte, ihr Gesicht kurz nach Ablauf der Frist zu einer breiigen Masse verarbeiten würde? Was könnte er nun also tun, um seine Tochter zu beschützen? Könnte er jemanden umbringen, der gerade dabei ist, Janie töten zu wollen? Natürlich würden alle Eltern ohne zögern so handeln. Könnte er einen Fremden umbringen, der gerade dabei ist, irgendein unschuldiges Kind zu töten? Absolut. Auch das wäre kein Problem.

      Hinter ihm ertönte Lärm. Er drehte sich um und sah, dass der Wecker dröhnte. Sonntag war der einzige Tag, für den er sich keinen Wecker stellte, aber er war letzte Nacht nicht dazugekommen, ihn abzustellen. Er gab auf, schlafen zu wollen, schlurfte in die Dusche, drehte das heiße Wasser fast bis zum Siedepunkt auf und verharrte unter dem Strahl, bis das Wasser allmählich kalt wurde.

      Tom war genauso von Technologie besessen wie jeder andere unter vierzig und tippte sich durch Online-Artikel auf seinem Telefon, iPad oder diesem Dinosaurier der Technik – dem Computer, um täglich auf dem Laufenden zu sein. Die einzige Ausnahme bildete der Sonntag; der Tag, an dem er nicht vor Sonnenaufgang aufstehen musste. Sonntags genoss er ein ausgedehntes, üppiges Frühstück und las dazu die auf dem Küchentisch ausgebreitete Washington Post.

      Aber dieser Sonntagmorgen war nicht für lasterhaftes Genießen bestimmt. Er knabberte spärlich an einem Stück trockenen Toast und trank seinen Kaffee nur, weil er den Koffeinschub brauchte, um sich konzentrieren zu können. Er ignorierte jede Story in der Zeitung völlig und las nur die über den Battaglia-Mord, welche die Lokalnachrichten mit der Schlagzeile anführten: »Bauunternehmer angeklagt, soll Frau totgeprügelt haben.«

      Der Artikel war ziemlich lückenhaft, schließlich war zwischen dem Mord und der Morgenausgabe nicht viel Vorbereitungszeit gewesen, aber er zeigte Ginos Polizeifoto. Das Bild war merkwürdig: Statt wie ein Mafiaschläger aus dem Fernsehen rüberzukommen, wie er das im richtigen Leben tatsächlich tat, erschien der Mann eher verängstigt und verunsichert.

      Tom brach mit seiner Gewohnheit und las die neueste Ausgabe der Post auf seinem iPad. Gayle wurde frei zitiert und es gab ein Foto von ihr, auf dem sie Angie im Arm hielt und sich von der Kamera abwendete. Ein Kommentar von Ralph Ziti, dem Anwalt der Firma, lobte Gino als vorbildlichen Vater und Ehemann und deutete an, es könne sich hierbei um einen Fall vorübergehenden Wahnsinns gehandelt haben, hervorgerufen durch eine posttraumatische Belastungsstörung, die von Ginos heldenhaftem Einsatz im Irak herrührte. Als weitere Begründung gab er auch an, es könne an den falschen verschriebenen Medikamenten für seine Rückenschmerzen gelegen haben. Nirgendwo fand sich ein Hinweis auf ein fröhliches Eliteschüler-Paar aus der Hölle, das Gino gezwungen hatte, seine Frau zu töten, einfach weil sein gedankenloser Schwager versäumt hatte, vor Mitternacht einen völlig Fremden umzubringen.

      Toms Handy vibrierte. Er griff danach in der Befürchtung und gleichzeitigen Hoffnung, Chads Gesicht auf dem Display zu sehen. Er musste mit ihm reden, sich über Alternativen unterhalten. Verhandeln. Am wichtigsten war, dass er Bestätigung brauchte, dass Chad und seine Gefährtin real waren. Nun, vielleicht war »real« der falsche Begriff. Das Einzige, was schlimmer war, als die Bestätigung, dass sie echt waren, wäre Ungewissheit. Was sollte er dann tun? Draußen einen völlig Fremden töten, nur wegen der geringen Wahrscheinlichkeit, dass ansonsten die Kinder Satans seine Tochter holen würden? Sich diese Frage zu stellen, war in höchstem Maße surreal. Aber wie lautete die Antwort? Was würde er tun?

      Der Anruf kam nicht aus der Hölle; er kam aus Arlington, Virginia.

      »Wie geht es ihr?«, erkundigte sich Tom.

      »Janie ist ziemlich tapfer«, antwortete Gayle. »Aber Angie fragt dauernd nach ihrem Daddy. Gott, sich das mit ansehen zu müssen …«

      »Kann ich etwas tun?«

      »Dave und ich müssen uns mit dem Gerichtsmediziner und dem Bestatter unterhalten. Kannst du kommen und die Mädchen abholen? Du wirst Angie nach Hause bringen müssen, damit sie etwas Kleidung holen kann. Sie wird wohl noch bei uns bleiben.«

      »Bin in fünfundvierzig Minuten da. Irgendetwas Neues von Gino?«

      »Für morgen ist eine Kautionsverhandlung angesetzt. Wir sind uns sicher, dass ihn der Richter nicht auf freien Fuß setzen wird. Du bist Anwalt, was denkst du?«

      »Ich bin nicht im Strafrecht, aber das hört sich vernünftig an.«

      ***

      Tom holte die Mädchen in Virginia ab. Die Rückfahrt in den Distrikt verlief größtenteils schweigsam. Tom war sich nicht sicher, wie er mit Angie umgehen sollte. Sollte er so tun, als sei er bester Laune, damit sie von dem Schrecken abgelenkt wurde, den sie mit hatte ansehen müssen? Oder sollte er auf triste Art Mitgefühl zeigen?

      Schließlich entschloss er sich, zu warten, wie sie reagierte. Sie hatte sich entschieden, auf der fünfundvierzigminütigen Fahrt größtenteils still zu sein, war aber auf den letzten Meilen ziemlich von dem Videospiel angetan, das Janie auf ihrem Nintendo spielte. Als er und Gayle noch zusammen waren, hatte er die strikte Regel eingeführt, dass im Auto nicht gespielt wird, was auch – und noch viel mehr – für Restaurants galt. Jetzt hingegen war er ganz dankbar für die Ablenkung.

      Eine weniger. Er musste immer wieder an diese Worte denken.

      »Janie, wer waren die beiden Mädchen, die mit euch gefahren sind, als ihr vor zwei Wochen im Museum wart?«

      »Öhm, Abby Jackson …« Sie wandte sich an Angie. »Wer noch?«

      »Emma 2«, antwortete Angie.

      »Zwei Emmas?«

      »Wir haben vier Emmas in Ms. Allens Klasse. Emma Stein ist Emma 1 und Emma Wong ist Emma 2. Warum fragst du?«

      Tom tippte die Namen mit der rechten Hand in seine Notizbuch-App auf dem iPhone, während er mit der linken weiter lenkte.

      »Du darfst beim Fahren nicht tippen, Daddy«, ermahnte ihn Janie.

      »Du hast