»Ich freue mich, daß du für ein paar Wochen hier mitarbeiten wirst«, behauptete Dr. Metzler, doch Karina hörte den distanzierten Ton aus seiner Stimme sehr wohl heraus.
Ein wenig befremdet sah sie ihn an, doch dann kam ihr der Gedanke, daß Wolfgangs seltsames Verhalten vielleicht auf die Fehlgeburt zurückzuführen war, die seine Frau erlitten hatte.
»Es ist nett von dir, daß du mir diese Möglichkeit gibst«, entgegnete Karina daher ebenfalls mit betonter Distanz. »Schließlich bin ich erst Studentin, und für dich bestünde keine Notwendigkeit…« Sie stockte. Was sollten all die nichtssagenden Floskeln, wenn ihr etwas ganz anderes am Herzen lag? »Ich war am Samstagnachmittag bei Erika.«
Dr. Metzler nickte. »Ich weiß. Sie hat es mir erzählt.« Dann wandte er den Kopf zur Seite. »Ich will nicht darüber sprechen, Karina. Das alles ist für mich einfach zu schmerzlich, als daß ich es in Worte fassen könnte.«
Karina wußte nicht, was sie darauf erwidern sollte, daher lenkte sie ganz bewußt von diesem sehr privaten Thema ab.
»Wo soll ich tätig werden, Wolfgang? Hier in der Chirurgie oder drüben in der Gynäkologie?«
»Du wirst die Arbeit in beiden Abteilungen kennenlernen«, antwortete Dr. Metzler, und wieder spürte Karina diese eigenartige Distanz, die früher nie zwischen ihnen bestanden hatte. »Fürs erste möchte ich aber, daß du hier in der Chirurgie bleibst. Es ist ein strenger Tagesablauf, den du hier erleben wirst, denn ich achte ganz besonders auf Disziplin.« Er warf einen Blick auf die Uhr. »In einer Stunde wirst du uns bei der Visite begleiten. Bis dahin kannst du dich schon mal ein bißchen mit dem Ärzte- und Schwesternzimmer vertraut machen. Dr. Scheibler und Oberschwester Lena werden sich um dich kümmern.«
»In Ordnung, Wolfgang.« Damit wollte sie gehen, doch Dr. Metzler hielt sie zurück.
»Noch etwas, Karina. Wir haben uns unter anderen Umständen kennengelernt und sind nun mal per Du. Vor den Patienten wünsche ich aber, daß du mich mit ›Herr Chefarzt‹ ansprichst.«
»Selbstverständlich, Wolfgang«, stimmte Karina zu, dann verließ sie auffallend schnell das Büro. Draußen atmete sie erst einmal tief durch und fragte sich, ob der Mann, mit dem sie gerade gesprochen hatte, wirklich noch derselbe Mensch war, den sie einst in der Villa ihres Vaters kennengelernt hatte.
Mit einem tiefen Seufzer machte sie sich auf den Weg zum ersten Stockwerk. Bereits auf der Treppe begegnete sie ihrem älteren Bruder.
»Na, Schwesterherz, freust du dich auf die Arbeit?« fragte er grinsend, obwohl sie ihm ja am Wochenende schon gesagt hatte, wie gespannt sie auf den Klinikbetrieb war.
»Und wie«, behauptete Karina, doch Stefan spürte, daß ihre Begeisterung nicht mehr so groß war wie am Wochenende.
»Was ist los mit dir, Karina?« wollte er wissen, dann dämmerte es ihm. »Ach so, du bist Wolfgang begegnet, und nun spielt dein Herz wieder verrückt.«
Doch Karina schüttelte den Kopf. »Nein, Stefan, ganz und gar nicht. Es ist vielmehr… ich erkenne Wolfgang kaum noch wieder. Erikas Fehlgeburt muß ihm fürchterlich zugesetzt haben, daß er sich so sehr verändern konnte.«
»Irrtum, Schwesterlein«, entgegnete Stefan, blieb dabei aber sehr ernst. »Diese Veränderung hat schon vor ein paar Monaten angefangen. Wolfgang entwickelt sich zunehmend zu einem echten Tyrannen. Vermutlich ist ihm der Chefarztposten doch sehr zu Kopf gestiegen.«
Heftig schüttelte Karina den Kopf. »Das kann ich nicht glauben, Stefan. Er war doch immer so bescheiden.«
»Mal sehen, wie du nach den Semesterferien darüber denken wirst.«
*
Daß ihr Bruder zumindest teilweise mit seiner Meinung recht zu haben schien, erkannte Karina noch in derselben Stunde. Sie hielt sich gerade im Schwesternzimmer auf, als sie den Chefarzt mit langen Schritten ins Ärztezimmer eilen sah. Und dann hörte sie auch schon seine strenge Stimme.
»Sag mal, Stefan, was soll das sein?«
Karina konnte nicht anders, als zur Tür des Ärztezimmers zu gehen, und sie erschrak zutiefst über das, was sich ihren Augen dort bot. Wie ein Rachegott stand Dr. Metzler vor Stefan und knallte eine aufgeschlagene Krankenakte auf den Schreibtisch. Der junge Assistenzarzt zuckte erschrocken zusammen.
»Was ist?« herrschte Dr. Metzler ihn noch einmal an. »Hast du vielleicht die Sprache verloren? Ich habe dich gerade gefragt, was das sein soll!«
»Der Bericht über das Ergebnis der Computertomographie bei Herrn Seliger«, antwortete Stefan schließlich. »Gerrit hat gesagt, er wäre in Ordnung.«
Dr. Metzlers Stirn legte sich in bedrohliche Falten. »Gerrit ist hier nur Oberarzt, und das«, er tippte mit den Zeigefinger auf den Bericht, »ist ja wohl ein Witz. Soll ich diesen Humbug dem Münchner Kollegen schicken, der den Patienten zu uns überwiesen hat?« Er wartete eine Antwort von Stefan gar nicht erst ab, sondern nahm die beiden Blätter und zerriß sie. »Morgen früh habe ich einen anständigen Bericht auf dem Schreibtisch, haben wir uns verstanden?«
Stefan nickte ergeben. »Ja, Wolfgang.« Er wartete, bis der Chefarzt draußen war. Dann seufzte er tief auf. Noch vor ein paar Monaten war Dr. Metzler sein großes Vorbild gewesen, doch jetzt… »Gott bewahre, daß ich einmal so werde wie der.«
»Meine Güte, Stefan, was war das denn?«
Stefan zuckte erschrocken zusammen, als hinter ihm so unerwartet die Stimme seiner Schwester erklang.
»Glaubst du jetzt, was ich vorhin über Wolfgang gesagt habe?« wollte er dann wissen.
Karina schüttelte den Kopf. »Ich begreife es einfach nicht. Wie konnte er sich so verändern, und… warum tut niemand etwas dagegen?«
Stefan zuckte die Schultern. »Wer sollte es denn schon mitbekommen? Schließlich bin ich derjenige, auf den er es abgesehen hat, und meistens sind wir allein, wenn er mich wieder mal in dieser Weise zurechtstutzt.«
»Dann solltest du Papa Bescheid sagen«, meinte Karina. Ihr Blick ruhte auf der Krankenakte, die noch immer vor Stefan lag. »War seine Zurechtweisung eigentlich gerechtfertigt? Ich meine, ist an dem Bericht etwas auszusetzen?«
Stefan schüttelte den Kopf. »Gerrit hat ihn bereits gegengezeichnet, und er ist ein erstklassiger Arzt, auf dessen Urteil man sich blind verlassen kann. Wenn er sagt, der Bericht sei in Ordnung, dann ist er es auch. Aber du hast ja gehört, was Wolfgang darauf erwidert hat.« Er seufzte. »Na ja, irgendwann wird er sich wohl wieder beruhigen… oder ich schmeiße das Handtuch.«
»Was ist denn das? Tagt hier der Familienrat?«
Mit einem freundlichen Lächeln kam Dr. Scheibler ins Ärztezimmer, bemerkte aber sofort die gedrückte Stimmung der Geschwister.
»Ist etwas vorgefallen?« wollte er wissen.
Stefan und Karina tauschten einen Blick, dann zog sich das junge Mädchen diskret zurück. Sie wußte, daß ihr Bruder mit dem Oberarzt der Klinik befreundet war, und wollte den beiden Gelegenheit geben, sich ungestört zu unterhalten. Schließlich mußte ja endlich jemand erfahren, wie unmöglich sich der Chefarzt zur Zeit verhielt.
»Ich habe von Wolfgang gerade eine Anpfiff bekommen«, gestand Stefan mit gesenktem Kopf. »Und das war heute schon der zweite.« Er wies auf die Akte, die samt dem zerrissenen Bericht noch immer vor ihm lag. »Die Computertomographie Seliger.«
Ärgerlich schüttelte Dr. Scheibler den Kopf. »Also, allmählich geht er wirklich zu weit.« Er warf einen Blick auf die Uhr. »Bis zur Visite haben wir noch fast eine Stunde Zeit. Das wird reichen, damit wir beide den Bericht noch einmal neu verfassen, und ich persönlich werde ihn unserem werten Chefarzt danach vorlegen. Und wenn er danach wieder etwas daran auszusetzen hat, dann kann er mich kennenlernen.«
*
Erika