Auch das noch! Alle starrten ihn an. Resigniert machte er eine Kehrtwendung, lief in Richtung lauter Stimme, die er natürlich sofort erkannt hatte.
Sie gehörte Claudia, seiner Ex, mit der er vor ewigen Zeiten eine Kurzehe geführt hatte.
Weil sie so grundverschieden waren, hatte nichts zwischen ihnen funktioniert, bis auf den Sex. Aber damit war es nach den Werbewochen auch vorbei gewesen.
Claudia kam ihm entgegengelaufen, umarmte ihn, gab ihm Wangenküsschen.
Sie freute sich wirklich, ihn zu sehen. Und ihm ging es in der Regel ja auch nicht anders.
Aber ausgerechnet heute? An diesem verkorksten Tag? Und ausgerechnet hier?
Er folgte ihr zu ihrem Tisch, setzte sich, und dann musste er nur noch zuhören.
Claudia konnte reden wie ein Wasserfall.
So erfuhr er denn auch, dass ihr Mann in Italien, genau gesagt in Bologna, auf einer Messe war, dass sie es allein zu Hause nicht ausgehalten hatte, wie sehr sie sich doch freue, ihn, Paul, so unverhofft getroffen zu haben.
Er ließ ihren Wortschwall beinahe gottergeben über sich ergehen.
Claudia und er hatten sich, ohne dass schmutzige Wäsche gewaschen worden war, getrennt. Es hatte keinen Streit um »mein«, »dein« oder »unser« gegeben.
Claudia hatte kurz nach der Scheidung wieder geheiratet.
Wenn man so wollte, hatte sie sich sehr verbessert. Ihr Mann war mehr als nur wohlhabend.
Und das war gut so, das freute Paul für seine Ex.
Er hatte die Trennung nicht einen Augenblick lang bereut.
Wenn sie sich zufällig trafen, tranken sie einen Kaffee oder etwas anderes zusammen.
Manchmal rief sie ihn auch an, wenn sie etwas wissen wollte oder wenn sie Krach mit ihrem Mann hatte.
Da er wusste, dass diesen Krächen sehr schnell wieder die Versöhnung folgte, hörte er sich alles an, hielt sich raus, sagte nichts dazu.
Manchmal hatte er den Eindruck, dass es Claudia vollkommen reichte, einfach nur Dampf abzulassen.
Jetzt fing sie an über den Tennisclub zu reden, welches Handicap sie auf dem Golfplatz hatte.
Er mochte Claudia. Heute allerdings ging sie ihm mit ihrem Geplapper ganz gehörig auf den Senkel.
Obwohl er eigentlich Lust darauf hatte, bestellte Paul kein Frühstück, sondern nur einen Kaffee.
Das machte es ihm leichter, sich beizeiten zu verabschieden.
Lange hielt er es nicht mehr aus.
Er musste an die unbekannte Tote im Fluss denken. Es würde eine Weile dauern, ehe man sie identifizieren konnte, wahrscheinlich nur am Gebiss. Und da konnte man nur darauf hoffen, dass sie aus der Gegend stammte, es einen Zahnarzt gab, den sie aufgesucht hatte.
Sein Handy klingelte.
Es war sein Nachbar, der wissen wollte, ob es bei der Verabredung zum Fußball bliebe.
»Okay, ich komme sofort.«
Danach drückte er den Anrufer weg, ehe der sagen konnte, dass das Spiel doch erst am Nachmittag stattfinden würde.
Paul blickte seine Ex an. »Claudia, es tut mir ja so leid, aber ich muss los. Wir haben eine Wasserleiche, und unser Pathologe hat da etwas herausgefunden.«
Claudia kannte das noch von früher.
»Wie schade, Paul. Ich hatte gehofft, wir könnten den Sonntag miteinander verbringen, wo mein Hubert doch in Bologna ist.«
Er beugte sich zu ihr hinunter, umarmte sie flüchtig, drückte ihr einen Kuss auf die Stirn.
»Es wäre ein Traum gewesen, liebe Claudia …, aber«, er zuckte bedauernd die Achseln. »Die Pflicht ruft.«
Als er das Geld für seinen Kaffee hinlegen wollte, protestierte sie, was er akzeptierte.
Auch bei der Bezahlerei gab es keine Probleme zwischen ihnen.
Mal zahlte er.
Mal zahlte sie.
Wenn alle Paare sich so trennen würden, wie es ihm und Claudia gelungen war, gäbe es keine Rosenkriege, und viele Rechtsanwälte würden in die Röhre gucken.
Paul wollte jetzt einfach nichts weiter als nach Hause fahren.
Ein Blick auf seine Armbanduhr verriet ihm, dass es beinahe schon an der Zeit war, sich um sein Mittagessen zu kümmern.
Na bravo! Und er hatte nicht mal ein anständiges Frühstück gehabt, wie er es sonntags liebte. Dafür war es jetzt eindeutig zu spät, und das machte ihn noch missmutiger als er bereits war.
Der Regen hatte zwar aufgehört, aber es nieselte noch immer, und am Himmel zeigte sich kein Lichtstrahl. Noch immer war alles Grau in Grau – wie seine Stimmung. Die hätte man nicht besser beschreiben können. Paul Schuster wusste, dass er dazu neigte, sich in negative Stimmungen hineinfallen zu lassen. Das brauchte er jetzt nicht auch noch.
Gerade als er das Café verlassen wollte, klingelte sein Handy.
Es war Mike, sein Assistent, der ihm, nicht so forsch wie allgemein üblich, sondern ziemlich kleinlaut verkündete, dass man ihm vorhin vergessen hatte zu erzählen, dass diese unbekannte Frau nicht nur diese leere Handtasche bei sich gehabt, sondern auch noch eine, wie es schien, recht teure goldene Kette um den Hals getragen hatte. Die habe man selbstverständlich sofort asserviert.
»Tut mir leid, Chef, ist mir vollkommen untergegangen. Ich hoffe, Sie sind jetzt nicht sauer auf mich.«
Deswegen nicht. Er war sauer, weil Mike bei seinen coolen Auftritten niemals seine dämliche Sonnenbrille vergessen würde, auch nicht, sich entsprechend in Position zu bringen.
Paul kommentierte es nicht.
»Wir sehen uns morgen«, knurrte er nur, ehe er den Anruf beendete und das Café verließ.
Er rannte los.
Dummerweise hatte er in der Nähe keinen Parkplatz gefunden, sondern sein Auto stand ein ganzes Stück entfernt.
Er schlug den Kragen seiner Jacke hoch, stopfte die Hände in die Taschen und hielt den Kopf gesenkt.
Verflixte Wasserleiche … Dämlicher Mike … Übervolles Café …
Knurrender Magen … Miese Laune …
Auf das Fußballspiel am Nachmittag hatte er auch keine Lust mehr. Er würde absagen. So wie er drauf war, würde er eine Niederlage der von ihm favorisierten Mannschaft nicht ertragen können.
Er rannte um die Ecke, stieß mit jemandem heftig zusammen.
Er wollte die Person, die er angerempelt hatte, festhalten.
Es gelang nicht.
Die Frau stürzte zu Boden. Das war ihm mehr als nur peinlich. Eindeutig seine Schuld! Er hatte nicht aufgepasst, war in Gedanken ganz woanders gewesen.
»Entschuldigung«, murmelte er zerknirscht, half der Frau auf die Beine. »Hoffentlich ist Ihnen nichts passiert …, es war eindeutig meine Schuld. Ich habe gepennt.«
Jetzt erkannt er sie. Und das war ihm noch peinlicher. Vor ihm stand Frau von Tenhagen.
Genauer gesagt Leonie Gräfin Tenhagen, etwas, was diese Frau allerdings niemals herauskehrte.
Sie war unglaublich nett und verhielt sich nicht anders als Lieschen Müller von nebenan.
Sein Big-Boss hatte sie ihm einmal aufs Auge gedrückt, und er war deswegen ziemlich sauer gewesen.
Er mochte es nicht, wenn Privatpersonen, auch wenn es sich bei denen um recht erfolgreiche Krimiromanautoren handelte, in seinem Beruf herumschnüffelten und sich dabei