Ursprünglich hatte sie für einen Krimi, an dem sie schrieb, nur ein paar Informationen haben wollen.
Sie hatten sich von Anfang an sehr gut verstanden, und telefonierten hier und da miteinander.
Wenn er mal ganz ehrlich war …
Sie ein paar Jahre älter, er ein paar Jahre jünger …, nun ja, mehr als nur ein paar Jahre … Er hätte sie gnadenlos angebaggert.
Eine wirklich tolle Frau! So was war ihm nie begegnet. Da hätte er sogar eine zweite Heirat gewagt.
Und jetzt hatte er diese Frau auch noch umgerannt!
Nicht nur das. Bei dem Sturz waren ihre Sachen schmutzig geworden, sie hatte sich die Hose aufgerissen, und eine Schramme in ihrem schönen Gesicht hatte sie auch noch.
Paul kannte die Gräfin zwar nicht gut genug, aber er glaubte schon zu wissen, dass sie nicht zu den Frauen gehörte, für die der kleinste Kratzer im Gesicht einen Weltuntergang bedeutete.
Da gab es welche, die sich die kleinste Falte wegspritzen ließen, und ein Facelifting ließen sie schmerzvoll über sich ergehen, um hinterher auszusehen wie alle, die sich unters Messer legten.
Er hatte keine Ahnung davon, aber dank seiner Ex war er darüber bestens informiert.
So richtig hatte sie an sich noch nicht herumschnibbeln lassen, wollte es auch nicht. Aber mit Botox war Claudias Gesicht auch schon in Berührung gekommen.
Jetzt ging es nicht um Claudia, sondern um die junge Frau, die er umgerempelt hatte. »Ich bin untröstlich«, sagte er mit zerknirscht klingender Stimme. »Es tut mir ja so unendlich leid … Ihre Hose …, äh … Selbstverständlich werde ich den Schaden ersetzen.«
Er redete allerlei dummes Zeug, das fiel selbst ihm auf.
Sie nahm es wesentlich lockerer. Das passte genau zu dem Eindruck, den er von ihr hatte.
»Herr Schuster, es ist überhaupt nichts passiert«, sie lächelte sogar, »so viel Ungestüm hätte ich Ihnen überhaupt nicht zugetraut.«
Sie bewegte sich.
»Ist alles noch dran an mir.«
Da er wieder von Schadensersatz sprach, und sie ihn mittlerweile so gut kannte, um zu wissen, dass er es nicht bleiben lassen würde, sagte sie: »Okay, Sie schulden mir Ihre nächste Leiche … Ich darf, wenigstens am Rande, an den Ermittlungen teilhaben.«
Er starrte sie an.
»Ich weiß zwar, dass Sie eine verdammt gute Krimiautorin sind, von der Hellseherin wusste ich bislang nichts … Sie müssen auf die Leiche nicht warten, die gibt es bereits.«
Und dann erzählte er ihr von der toten Frau im Fluss.
Das war etwas für Leonie!
Sie besaß zwar genügend Fantasie, um sich einen »Fall« auszudenken.
Eine Wasserleiche hatte es bislang in keinem ihrer Romane gegeben, und von selbst wäre sie, ehrlich gesagt, auch nicht darauf gekommen.
Sie hatte sich einiges angelesen und sich dann gesagt, dass sie nichts über die sogenannte Gänsehaut bei verhältnismäßig frischen Wasserleichen schreiben musste, auch nichts über die charakteristische Waschhautbildung, d.h. Runzelung der Haut, die durch Wärme und Wasserströmung begünstigt wird.
Mord war zwar Mord, Freitod war Freitod …
Es gab genügend Möglichkeiten, da etwas zu beschreiben. Eine Wasserleiche musste nicht herhalten.
Aber wenn es die nun im realen Leben gab …
Was der Kommissar ihr da bislang erzählt hatte, klang ausgesprochen spannend. Sie wollte mehr wissen.
»Trinken wir zusammen einen Kaffee?«, erkundigte sie sich. »Das wollte ich ohnehin tun. Da im Rathauscafé gibt es …«
»Oh nein, bitte nicht dorthin«, rief er entsetzt, »daher komme ich gerade. Da ist es hackeknacke voll, und dort bin ich gerade auch erst meiner Ex entflohen.«
Sie hatte nicht gewusst, dass er verheiratet gewesen war. Darüber hatte sie sich allerdings auch keine Gedanken gemacht.
Er deutete ihren leicht irritierten Gesichtsausdruck richtig.
»Ist so lange her, dass es schon gar nicht mehr wahr ist. Und eigentlich verstehen Claudia und ich uns noch immer prächtig … Es ist nur so, nach diesem Vormittag unten am Fluss kann ich munteres Geplapper nicht ertragen …, hier um die Ecke gibt es ein kleines Eiscafé … Dort gibt es sehr guten Kaffee, und einen noch besseren Cappuccino oder Latte …, wie auch immer, darf ich Sie dorthin einladen?
Er durfte.
Leonie wäre mit ihm auch in eine Fuhrmannskneipe gegangen, um mehr über die Tote zu erfahren.
Ihre Tante Klara, mit der sie zusammen in der wunderschönen alten Villa Rosenstein lebte, war verreist.
Und ihre Freundin Linda war gerade frisch verbandelt und wollte den Sonntag mit ihrem neuen Lover verbringen.
Und sie selbst …
Eigentlich hatte sie nur ein wenig durch die Gegend laufen und dann irgendwo einen Kaffee trinken wollen, ehe sie sich wieder an die Arbeit gemacht hätte, weil der Abgabetermin für ihren neuen Roman nahte und sie nach einer längeren Schreibblockade froh war, wieder schreiben zu können.
Welch ein Glücksfall, dass der Kommissar sie umgerempelt hatte und nun wie das personifizierte schlechte Gewissen aussah.
Sie musste an dem Fall dran bleiben …
Es war Leonie klar, dass er sie nicht mit ermitteln lassen durfte, schließlich war sie keine Kriminalbeamtin.
Aber sie würde ihn dazu bringen, dass er sie auf dem Laufenden hielt.
Eine Wasserleiche …
Das konnte sie sich, bei aller Tragik, weil dadurch eine Frau ums Leben gekommen war, nicht entgehen lassen.
Sie stimmte zu, und bald saßen sie sich in dem kleinen Eiscafé bei einem wirklich ganz ausgezeichnete Cappuccino gegenüber.
Seine Laune besserte sich.
Er fühlte sich in der Gesellschaft der blitzgescheiten, bildschönen Frau unendlich wohl, und so machte er ihr denn auch das Zugeständnis, was er eigentlich nicht hätte tun dürfen, sie bei diesem Fall von Anfang an auf dem Laufenden zu halten …
*
Da eine Tötung von fremder Hand durch Ertränken leicht verkannt werden konnte, bedurfte es einer gründlichen pathologischen Untersuchung. Gerade bei Wasserleichen neigte man dazu, allzu schnell eine Theorie der Selbsttötung oder eines Unfalls anzunehmen. Zum Teil deswegen, weil bei frisch geborgenen Wasserleichen Tatspuren, zum Beispiel Würgemale, auf der nassen Haut nicht sichtbar zu sein brauchen und erst oft Stunden später sichtbar hervortreten.
Dr. Ambrosius Klatt war ein alter Hase, ein routinierter Pathologe, dem war sehr schnell klar, dass in diesem Fall alles, aber auch wirklich alles, für einen Suizid sprach.
Das Alter der Frau hatte er auf Mitte dreißig festgelegt, das zerfetzte Bein war eindeutig eine postmortale Verletzung, entstanden durch eine Schiffsschraube. Ansonsten hätte die Frau gut und gern neunzig Jahre alt werden können, wenn nicht noch mehr.
Krankheit war, wie in vielen anderen Fällen, kein Grund für den Freitod gewesen.
Also kein Mord!
Es wäre schön, wenn man den Fall dann, weil von der Frau nichts bekannt war, an die Vermisstenabteilung weiterleiten könnte, so mit dem Bemerken, wir haben die Vorarbeit geleistet, und nun seid ihr dran.
Von wegen …
Ging nicht …
Sie waren die Ersten am Tatort gewesen und hatten den Fall nun an der Backe, dabei häuften sich auf ihren Tischen wirklich Fälle von einer ganz anderen Brisanz.
Paul