Inhalt
Wer verfolgt die schöne Valerie?
Immer, wenn Leonie von Tenhagen offiziell von ihrer Tante zum Tee gebeten wurde, gab es etwas zu besprechen.
Das war im Grunde genommen so lächerlich.
Sie wohnten in einem Haus. Leonie hatte die meiste Zeit ihres Lebens in der Villa Rosenstein verbracht, sah man einmal von den sechs Jahren ab, die sie mit Robert verheiratet gewesen war. Da hatten sie gemeinsam in einem wunderschönen Penthouse gelebt, und das wäre heute noch so, hätte es nicht diesen schrecklichen Unfalltod gegeben. Robert war von einem Geisterfahrer absichtlich mit in den Tod gerissen worden.
Der Schmerz, ihn verloren zu haben, würde wohl niemals vergehen, auch wenn sie sich bemühte, ein normales Leben zu führen. Doch was war schon normal? Dass man nicht ständig weinte? Dass die Zeit alle Wunden heilte?
Irgendwann hatte Leonie aufgehört, darüber nachzudenken. Und seit sie, mit recht beachtlichem Erfolg, Kriminalromane schrieb, wurde sie abgelenkt.
Vor allem verblasste immer mehr die fixe Idee, sie sei jemand, der das Unglück anzog.
Nun, ganz so abwegig war es nicht. Zuerst der Unfalltod ihrer Eltern, die waren bei einer Safari in Afrika mit einer kleinen Maschine, die ihr Vater geflogen war, abgestürzt. Und dann Robert, die große Liebe ihres Lebens …
Gut, dass es ihre Freundin Linda gab, die sie seit ihrer Sandkastenzeit kannte. Die hatte ihr den Kopf zurecht gerückt, ihr klar gemacht, dass für solche Unfälle niemand etwas konnte, dass es absurd war, sich dafür verantwortlich zu fühlen, und dass sie mal bedenken sollte, wie gut es ihr trotz allem ging.
Und dass sie sich glücklich schätzen konnte, diese sechs Jahre mit Robert gehabt zu haben. Das war mehr, als manche Menschen ihr ganzes Leben lang an Glück erfahren durften, wenn überhaupt. Linda war es auch gewesen, die ihr geraten hatte, wieder auf Menschen, auf Männer, zuzugehen.
Als sie sich zögerlich darauf eingelassen hatte, war bereits der erste Versuch ein Reinfall gewesen.
Kevin Schulz, ein charmanter Schaumschläger, hatte sie nicht nur belogen, sondern auch schamlos hintergangen, und das nicht nur mit einer Frau.
Sie konnte froh sein, rechtzeitig dahintergekommen zu sein. Nicht auszudenken, wenn sie eine enge Bindung mit ihm eingegangen wäre, ihn vielleicht sogar geheiratet hätte …
Nun, von Männern hatte sie auf jeden Fall erst einmal wieder die Nase voll. Sie würde sich von Linda nicht zu etwas drängen lassen.
Sollte vielleicht noch jemand auf ihren Weg kommen, dann würde es geschehen, ohne dass sie sich darum bemühte.
Eine Liebe, wie sie die mit Robert erlebt hatte, gab es nur einmal im Leben.
Sie war gern verheiratet gewesen, und sie konnte sich eine zweite Ehe durchaus vorstellen. Auch ein kleines Glück konnte einen zufrieden machen, wenn Treue, Verlässlichkeit, viele Gemeinsamkeiten vorhanden waren. Und wenn man mit seinem Partner lachen konnte.
Wenn also …
Leonie war nicht auf der Suche, und sie war nach der Episode mit Kevin auch nicht verbittert.
Robert und sie waren sich begegnet, und da hatte es den sprichwörtlichen Blitzschlag, diesen Coup de Foudre gegeben.
Das war sicherlich die Ausnahme.
Vermutlich musste man normalerweise viele Frösche küssen, ehe ein Prinz darunter war.
Leonie warf einen letzten Blick in den Spiegel, war mit ihrem Aussehen zufrieden, dann verließ sie ihre Räume.
Während Tante Klara unten residierte, bewohnte sie die obere Etage der Villa Rosenstein. Im Grunde genommen war es ein Wahnsinn, dass zwei Frauen ein so riesiges Haus allein bewohnten.
Klara Gräfin von Rosenstein würde sich allerdings eher erschießen lassen, statt das alles hier aufzugeben.
Leonie zahlte ihrer Tante eine angemessene Miete, sonst wäre sie nicht wieder in die Villa eingezogen. Aber das reichte bei Weitem nicht aus, das alles zu finanzieren, einschließlich eines Hausmeisterehepaares, das in einem Nebengebäude wohnte.
Leonie hatte keine Ahnung, ob ihre Tante Vermögen besaß oder ob sie von Verwandten unterstützt wurde. Sie machte daraus ein Geheimnis und wurde ungehalten, wenn man eine vorsichtige Andeutung machte.
Als Leonie sich einmal darüber hinweggesetzt hatte und einfach weitergebohrt hatte, war Tante Klara richtig wütend geworden und hatte nach dem Krach tagelang nicht mit ihr geredet.
Daraufhin hatte Leonie beschlossen, niemals mehr etwas zu erwähnen.
Tante Klara war nicht nur stolz. Sie hatte auch ein unglaubliches Standesbewusstsein und wollte einfach nicht wahrhaben, dass der Adel keinerlei Bedeutung mehr hatte, und das ein Titel nicht mehr war als der Bestandteil eines Namens.
Aber ansonsten hatte sie ein Herz aus Gold.
Sie hatte nicht nur alles dafür getan, dass dieses kleine verschreckte Mädchen wieder das Lachen gelernt hatte. Sie war es gewesen, die für eine sonnige Kindheit und Jugend, für eine exzellente Ausbildung gesorgt hatte. Und dafür würde Leonie ihr ewig dankbar sein. Auch dafür, wie sie gemeinsam mit ihr um Robert getrauert und sie wie selbstverständlich wieder in der Villa Rosenstein aufgenommen hatte.
Ja, sie liebte ihre Tante Klara, und daran würde sich niemals etwas ändern.
Als Leonie sah, dass niemand sie beobachten konnte, nahm sie nicht die Treppe, sondern schwang sich auf das polierte Mahagonigeländer und rutschte, wie in Kindertagen, darauf hinunter.
*
Da genug Platz vorhanden war, konnte Tante Klara auch an ihren Ritualen festhalten. Der Tee wurde im gelben Salon eingenommen, basta!
Als Leonie in den Raum trat, saß Tante Klara bereits auf ihrem Platz, eine zarte, kleine Person, meist in Grau gekleidet, das graue Haar straff zurückgekämmt, hinten zu einem Knoten verschlungen. Die Körperhaltung verriet Energie, die wachen grauen Augen einen klaren Verstand.
Ja, in Klara Gräfin von Rosenstein konnte man sich täuschen. Sie war nicht die nette alte Dame, die man beschützen musste, sondern ein wahres Kraftpaket, ein Energiebündel. Und wenn sie loslief, hatte so mancher Mühe, mit ihr Schritt zu halten.
Der gelbe Salon, mit seinen schon ein wenig verblichenen kostbaren Seidentapeten, den mattgelben Seidenvorhängen, war ganz