Dieser Sommer verging wie im Flug, und ich war schließlich nahe dran, meinen Pass verschwinden zu lassen, um nicht nachhause fliegen zu können. Ich war tatsächlich sehr, sehr nahe dran …
Mein tot geglaubter Großvater kam eines Tages völlig unerwartet und unversehrt aus dem Krieg zurück und zog sofort nach Deutschland weiter. Nach Kiel. Dort arbeitete er an einer Tankstelle, ehe er relativ bald starb. Warum er nicht in Salzburg blieb, weiß niemand.
Auch meine Mutter wuchs mit ihrer jüngeren Schwester in Rumänien jahrelang ohne Eltern auf, weil ihre Mutter von den Russen in ein sibirisches Arbeitslager verschleppt worden war und mein Großvater als Schiffskapitän die Donau auf und ab fuhr. Hier gäbe es viele Geschichten zu erzählen, aber da uferte ich aus.
Im Garten der Tante jedenfalls, diesem Zaubergarten in Morzg, habe ich unendlich viele Wochenenden meiner Kindheit verbracht. Tantes Verlobter war im Krieg gefallen, und sie blieb unverheiratet und kinderlos. Nein, kinderlos nicht wirklich, denn abgesehen von meinem Vater und dessen Bruder hat sie später auch noch meine Schwester und mich mit aufgezogen. Und das nach allen Regeln der Kunst, schließlich war sie ausgebildete Kindergärtnerin.
Wenn ich an die Orte meiner Kindheit denke, denke ich einerseits an unsere Wohnung im 8. Stock im Wohnblock in Lehen, die ich geliebt habe. Auch wenn Lehen schon damals eine ziemliche Betonwüste war, für Kinder sind dank ihrer endlos scheinenden Fantasie auch Betonwüsten Abenteuerspielplätze. Andererseits denke ich an das märchenhafte alte Haus der Tante mit dem großen Nussbaum und dem sprichwörtlichen Brunnen vor dem Tore. Überall wucherten Blumen, Brennnesselsträucher inspirierten uns zu allerlei Mutproben, alte Zedern umgaben die von der Tante errichtete Gedenkstätte für ihren Verlobten, und unter dem Flieder fand unser Wellensittich »Harry« seine allerletzte Ruhe. Direkt neben den Gebeinen einiger alter Römer übrigens, denn das Haus der Tante befand sich direkt auf einem ehemaligen römischen Friedhof.
Die Lust auf Verkleiden hatten Lissi und Angelika schon als Kinder: Hier als Prinz und Prinzessin im Garten in Morzg.
Die Beschreibung meiner Familie wäre allerdings unvollständig, würde ich nicht auch von meiner Tante Traude erzählen. Meiner echten Tante. Sie war die jüngere Schwester meiner Mutter, Taufpatin meiner Schwester Lissi und auch von mir, hat unendlich viel Anteil genommen am Leben ihrer beiden Nichten und ist zu unser aller Entsetzen und Trauer 2008 völlig unerwartet an einem Herzinfarkt gestorben. Sie war ein ganz großer Freigeist. Oder besser: Sie wäre einer gewesen, hatte allerdings zu selten die Möglichkeit, richtig frei zu sein.
Als mein Dasein als Sängerin in Wien schließlich immer mehr Fahrt aufnahm, war sie eine ganz treue Begleiterin, bloß ihren Mann, meinen Onkel Peperl, konnte sie nicht zum Opernfan bekehren. Der saß und sitzt lieber mit mir beim Heurigen. Und ich mit ihm.
Tante Traude war in der Familie und bei all meinen Freunden bekannt dafür, alles und jeden fotografisch festzuhalten. Und das hat sich dann über viele Jahre in dicken Ringordnern niedergeschlagen, in denen sie absolut alles gesammelt hat, was ihre Nichten und deren Kinder betraf: Fotos eben, aber auch Briefe, Kritiken, Zeitungsausschnitte, Zitate und Kommentare. So haben wir eine umfassende Chronik über einen Zeitraum von fast zwanzig Jahren, für den wir ihr ewig dankbar sein werden, meine Schwester Lissi und ich.
Lissi war und ist übrigens genauso musikalisch wie ich und stimmlich nicht minder begabt, bloß machte ihr das Klavierüben noch weniger Spaß als mir. Und das will was heißen.
Unsere Leben sind später sehr unterschiedlich verlaufen, denn während ich von Kontinent zu Kontinent flog und oft nicht mehr wusste, wie mir eigentlich geschah, konnte sie scheinbar völlig entspannt im schönen Haus am Land sitzen, sich um die Kinder kümmern und im Pool planschen. Wahrscheinlich hatten wir in diesen Zeiten beide einen gleichlautenden Wunsch: Nämlich wenigstens ein Wochenende in Wien verbringen zu können, allerdings aus völlig unterschiedlichen Motiven. Ich, weil ich nachhause wollte, sie, weil sie auch einmal weg von dort wollte.
Und während ich bis zur Pubertät nicht wirklich wusste, wofür eine jüngere Schwester gut sein sollte, bin ich heute umso glücklicher und dankbarer, dass ich sie habe. Denn sie ist einer der wenigen Menschen, der mir stets die Wahrheit sagte und immer noch sagt. Und der mich schon sehr oft auf den Boden der Realität zurückgeholt hat, auch wenn ich die Ältere bin.
Als ich vierzehn war, bekam ich mein erstes Konzert-Abonnement fürs Große Festspielhaus. Teuer dürfte es nicht gewesen sein, denn ich saß stets hinter einer Säule. Und als ich dann zum ersten Mal selbst im Rahmen der Festspiele dort gesungen habe, 2003 in Jacques Offenbachs »Hoffmanns Erzählungen«, habe ich dauernd hinaufgesungen zur Säule links oben. Während dieser Vorstellungen auf der Bühne des Großen Festspielhauses habe ich mich oft gefragt, ob ich wirklich einen so weiten und erfolgreichen Weg hinter mir habe und quasi etwas Besonderes bin, oder ob der Unterschied zwischen oben und unten gar nicht so groß ist. Diese Säule hat mir jedenfalls sehr, sehr viel Halt gegeben und mir gezeigt, wie wichtig Bescheidenheit ist, denn auch der Platz hinter einer Säule kann ein sehr schöner sein. Es muss nicht immer nur die erste Reihe fußfrei sein im Leben.
Ich weiß noch gut, wie es in mir drinnen ausgeschaut hat, als ich in diesem Jahr von der ersten Kostümprobe kam und vor dem Festspielhaus stand und auf die Franziskanerkirche und den Markt schaute. Alles, was zu diesem Zeitpunkt mit mir passierte, kam mir in diesem Moment so unwirklich vor, und ich erinnerte mich plötzlich ungemein intensiv an meine so glücklich und unbeschwert verlaufende Jugend. An die diversen Ferienjobs, als ich beispielsweise in der Konditorei Fürst Kuchenmädchen war und prominente Festspielgäste und auch zahlreiche Künstler bediente. Menschen aus einer anderen Welt und ich mittendrin mit meiner weißen Schürze. Ausgesehen habe ich wie eine Putzfrau, und Trinkgeld gab’s auch keines, da Kuchenmädchen nicht kassieren durften, aber dafür habe ich gelernt, wie man Eisbecher zubereitet.
Und dann die Sommer im Musikhaus Katholnigg, wo ich auch noch aushalf, als ich bereits in Wien studierte. Selbst Thomas Hampson zählte zu meinen Kunden. Und oft musste ich bestellte Platten und CDs in den »Goldenen Hirschen« liefern, kannte daher alle Portiers und Rezeptionisten und wusste immer, wer gerade zu Gast im Hotel war. Festspiele backstage quasi. Und im Geschäft durfte ich nie hinter dem Verkaufstresen sitzen, ich musste immerzu stehen. Damit mich die Leute von der Straße aus sahen mit meinem Dirndl und den Zöpfen rechts und links und hereinkamen und Geld daließen.
Eines Tages kam ein Schweizer herein. Ein älterer Herr, weiße Haare, extrem elegant, und er hat unglaublich viel gekauft. Ein paar Tage später kam er wieder, diesmal mit seiner Frau. »Ich möchte Ihnen etwas schenken«, hat er gesagt. »Weil Sie so nett waren.« Und dann hat er mir ein Parfum überreicht. Aber das war’s noch lange nicht, denn im Jahr darauf war er wieder da und sagte, ich solle mir ein neues Dirndl machen lassen. Ein nobles, ein so richtig elegantes. Eines für den Abend. Und Schuhe und alles, was dazugehört zu einem vornehmen Dirndl. Auf seine Kosten. Ich war verwirrt und habe die Chefin gefragt, ob ich ein derart großzügiges Geschenk überhaupt annehmen darf. »Mach nur«, hat sie gesagt, »dieser Herr kommt seit 30 Jahren zu uns und ist in jeder Hinsicht seriös.«
Ich bin also ins Heimatwerk gepilgert, habe mir einen Stoff ausgesucht, altrosa war der, und das Dirndl nähen lassen. Ich habe dem edlen Spender dann ein Foto von mir in diesem Dirndl geschickt, und zurück kam ein Kuvert mit einem Scheck. Fast 2000 Schilling haben Dirndl und Schuhe gekostet. Natürlich wollte ich wissen, wer der Mann war, und erhielt die Antwort in Briefform. Ich hatte ihm nämlich einen Dankesbrief geschrieben, auf den er mir antwortete und ungefragt seine Geschichte erzählte. Beispielsweise, dass er ein Enkel des Nestlé-Gründers war und bereits mit neunzehn die Firma geerbt hatte. Tony Page war sein Name.
Und dann entwickelte sich eine regelrechte Freundschaft. Er hat mir Flugtickets geschickt, damit ich ihn