Ich erfinde mich jeden Tag neu. Angelika Kirchschlager. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Angelika Kirchschlager
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Философия
Год издания: 0
isbn: 9783902862709
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      Erkannt haben mein Talent allen voran zwei Leute, aber keiner der beiden sollte mir später je zu einer professionellen Karriere raten. Der eine war Albin Reiter, der andere Hannes Laimer, der Chorleiter der Franziskanerkirche, der mir nach einiger Zeit bei ihm auch erste Solopartien anvertraute. Beide förderten mich, das ja, aber von keinem habe ich den Satz im Ohr, wonach ich doch eine Laufbahn als professionelle Sängerin anstreben solle, geschweige denn, dass ich dereinst tatsächlich Karriere als solche machen würde.

      Laimer war ein Nachbar von uns. Und oft habe ich ihn gemeinsam mit anderen Chorsängern zuhause besucht. Eines Abends, eines sehr späten Abends, war ich wieder einmal mit ein paar anderen bei ihm, als es plötzlich an der Tür klingelte. Draußen stand mein Vater, eingehüllt in seinen Schlafrock und mit klappernden Holzschlapfen, und hat mich nachhause dirigiert. »Angelika, es ist Zeit«, hat er gesagt. »Ab ins Bett. Du hast morgen Matura …« Was die Disziplin betrifft, bin ich schon damals immer wieder an meine Grenzen gegangen.

      In die Zeit der Matura und der Vorbereitung darauf fiel auch jene Schulproduktion, die mein Schicksal besiegeln und wegen der ich später auf die Maturareise verzichten sollte, weil wir unmittelbar nach der Matura noch Vorstellungen hatten. Da lagen die anderen schon in Griechenland am Strand, und ich kann mich nicht erinnern, dass ich sie dafür allzu sehr beneidet hätte.

      Es handelte sich bei dieser Produktion um Cesar Bresgens Kinderoper »Der Igel als Bräutigam«, die Albin Reiter sehr professionell und sehr akribisch mit uns erarbeitete. Begleitet von einem kleinen Orchester bespielten wir damals die Bühne im neuen Mozarteum, und ich hatte ursprünglich auf die Rolle des Igels gespitzt, also auf die Hauptrolle. Geworden ist es dann jedoch der Kasperl. Aber mein Zorn hielt sich alsbald in mehr als überschaubaren Grenzen, denn der Kasperl entpuppte sich als geradezu perfekt für mich. Erstens war der Kasperl ein Mezzosopran, auch wenn damals noch nicht restlos klar war, dass ich eines Tages ein solcher sein würde, und zweitens erwies sich der Kasperl als absoluter Sympathieträger. Die Kinder im Publikum liebten ihn, und in dieser Rolle gefiel ich mir.

      Außerdem musste ich mich nicht als Letzte verbeugen, und auch das störte mich nicht. Ob das bereits eine unbewusste Vorahnung war? Im Lauf der Jahre bin ich jedenfalls mehr und mehr draufgekommen, dass es mir – wie immer bestätigen ein paar Ausnahmen die Regel – durchaus nicht unangenehm war und nach wie vor nicht ist, nicht die allererste Geige zu spielen. Als Letzte vor das Publikum zu treten und mich zu verbeugen, war nie mein Antrieb. Vielmehr war es mir mitunter fast unangenehm. Warum? Ich weiß es nicht ganz genau, aber es liegt wohl nicht zuletzt daran, dass ich auch im »echten« Leben ungern im absoluten Mittelpunkt stehe.

      Wir steckten, um auf das Thema zurückzukommen, also mitten in den Vorbereitungen. In den Vorbereitungen auf die Matura, in den Vorbereitungen auf die Oper. Ich war auf dem Weg in die Schule, wie immer mit dem Bus, und stieg, aus Taxham kommend, bei der Station vor dem Müllner Bräu aus. Von dort aus führte mich der Weg vorbei am »Bärenwirt«, bei dem die Backhendl zu gut schmeckten, hinunter zur Salzach und unter der Eisenbahnbrücke durch, unter der ich irgendwann Monate davor meine erste Zigarette geraucht hatte, und schließlich weiter zur Schule.

      Angelika mit ihrem allerersten Bühnenkostüm. Quasi gleichzeitig mit der Matura spielte und sang sie den Kasperl in der Kinderoper »Der Igel als Bräutigam«. Diese Rolle sollte ihr Schicksal besiegeln

      Und an diesem Tag im Mai des Jahres 1984 ist es mit mir, dem Kasperl, passiert. An der Bushaltestelle. An der Bushaltestelle vor dem Müllner Bräu. Ich bin ausgestiegen, es hat mich wie der Blitz aus heiterem Himmel getroffen und ich habe mir eine Frage gestellt, die gleichzeitig auch schon die Antwort war: Will ich Opernsängerin werden?

      Es war wie eine Erleuchtung für mich, obwohl ich nicht wusste, wie mir geschah, denn damals war es nur ein Moment, der mich durch seine Klarheit und Direktheit überwältigt hat. Wenn ich heute an mein bisheriges Leben zurückdenke, gewinnt dieses Ereignis vor dem Müllner Bräu für mich eine ungeahnte Dimension. Und noch heute muss ich sehr oft an den dänischen Philosophen Søren Kierkegaard denken: Das Leben versteht man immer nur rückwärts, aber leben muss man es vorwärts.

      Wie es dann weiter, wie es vorwärts ging, mit der Aufnahmeprüfung in und dem Umzug nach Wien, dazu komme ich später. Vorher möchte ich noch von Salzburg erzählen. Vom Kuchenmädchen beim »Fürst« und der Verkäuferin im Plattengeschäft, von ersten Küssen in Anthering, von Neil Young und Ludwig Hirsch, von einem reichen Schweizer, vom ersten Freund, vom verschollenen Opa, von der Ersatzoma und einem Spielplatzwettbewerb.

       Die Tante, die Tante hieß,

       Texas und das Dirndl aus Seide

      Ich war ein stets gut behütetes Mädchen. Wuchs erst in Lehen auf, bis ich zwölf war, und dann in Taxham. Und das stets in einem ungemein liebevollen familiären Umfeld. In Lehen habe ich übrigens einen Spielplatzwettbewerb gewonnen, der von den Salzburger Nachrichten ausgeschrieben war. Es galt, einen Spielplatz zu entwerfen, und mein Entwurf wurde gewählt und umgesetzt. Direkt hinter dem Interspar. Gewonnen habe ich damals einen Kassettenrecorder und einen Zauberkasten, die beide noch irgendwo auf dem Dachboden meiner Eltern herumliegen, die inzwischen längst in der Gemeinde Wals-Siezenheim leben. Den Spielplatz gibt es allerdings nicht mehr.

      Und brav war ich. Unendlich brav. Anfangs jedenfalls. Stets höflich, immer adrett gekleidet und ausgesprochen folgsam. Am Sonntag gingen wir in die Kirche, und danach gab’s Schweinsbraten bei der Großtante, die für meine Schwester Lissi und mich wie eine richtige Omi war und die einen so einmalig zauberhaften Garten hatte. Wir nannten sie Tante. Nicht Tante Anna. Oder Großtante. Oder Großtante Anna. Einfach nur Tante. Das war wie ein Eigenname.

      Als der Pianist Jean-Yves Thibaudet, einer von Angelikas zahlreichen Begleitern, im September 2001 in Paris seinen 40. Geburtstag mit einem »Faschingsfest« feierte, erschien Angelika in einem Nonnen-Kostüm, das sie sich an der Staatsoper ausgeborgt hatte.

      Sie war die Schwester meines Großvaters väterlicherseits. Mein Großvater galt nach dem Krieg als vermisst, und meine Großmutter, damals schon dreifache Mutter, verliebte sich in einen amerikanischen Lehrer, der zu dieser Zeit in Salzburg stationiert war. Nach dem Krieg wurde die Oma in Abwesenheit ihres Mannes geschieden und ging mit dem Lehrer und ihrer Tochter in die Staaten, nach San Antonio in Texas. Warum mein Vater, damals fünf, und sein zwei Jahre älterer Bruder in Salzburg geblieben sind und von ihrer Tante, die immer Sängerin werden wollte, und den Großeltern aufgezogen wurden, ist mir bis heute nicht wirklich klar. Bei meinen Besuchen bei der Texas-Omi in den Staaten habe ich mir immer wieder vorgenommen, sie danach zu fragen. Und ich hatte auch den Eindruck, sie würde es mir erzählen, bloß hätte ich den ersten Schritt tun und mich nach den Geschehnissen aus der Vergangenheit erkundigen müssen, doch irgendwie hatte ich den Mut nicht.

      Erstmals zu Besuch im fernen Amerika war ich nach meinem ersten Studienjahr. Die Texas-Omi hatte inzwischen zwei weitere Kinder bekommen, einen Sohn und eine Tochter, und diese Tochter, sprich die Stiefschwester meines Vaters, holte mich gemeinsam mit der echten Schwester meines Vaters vom Flughafen in San Antonio ab. Mit einem Cabrio, woher wohl auch meine Vorliebe für Autos dieser Art rührt. Unvergesslich auch der Blick der beiden Frauen, die ich zuvor nur ein einziges Mal gesehen hatte, und ihr herzliches Lachen, als sie das Mädel aus Österreich in Empfang nahmen. Ich hatte nämlich noch in Wien extra für diese Reise ein Paar Hosenträger eigenhändig mit mehreren Edelweiß bestickt. Im Auto dann haben sie mir gleich einmal eine Zigarette angeboten, eine Mentholzigarette, und dann ging’s los über Straßen, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Außer im Fernsehen. Kaum angekommen, verspürte ich damals sogleich ein ungeahntes Gefühl von Freiheit, das sich in dieser vollkommen neuen Welt von Tag zu Tag steigern sollte. Die Gerüche,