6. Zwischenfazit
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Stand der Integration
Obwohl die Verträge von Amsterdam und Nizza kaum neue Sachbereiche in die Verträge einfügten, hatte das nationale Verwaltungsrecht in den rund zehn Jahren zwischen Amsterdam/Nizza und Lissabon wiederum eine Vielzahl von Neuerungen zu verarbeiten. Stärker noch als bisher zeigt sich die Unionsrechtsordnung in ständigem Reformprozess. Die Vielzahl an Agenturgründungen, bei denen es sich zum Teil um die Institutionalisierung zuvor bestehender informeller Kooperationen handelt, verdeutlicht die massive Ausweitung der gemeinschaftlich zu erledigenden Aufgaben in alle Lebensbereiche hinein.
VI. Der Vertrag von Lissabon
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Vertrag von Lissabon
Der Vertrag von Lissabon[206], der an die Stelle des gescheiterten Verfassungsvertrags tritt, enthält gerade auch für den Europäischen Verwaltungsverbund Klarstellungen und Neuerungen. Die Drei-Säulen-Struktur wird beseitigt und eine Europäische Union begründet, deren Grundlage der EUV und der AEUV bilden.
1. Änderungen im Überblick
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Neue Politikbereiche
Als Politikbereiche werden erstmals ausdrücklich benannt: Energie (Art. 194 AEUV), Tourismus (Titel XXII Art. 195 AEUV), Katastrophenschutz (Art. 196 AEUV) und Humanitäre Hilfe (Art. 214 AEUV). Die PJZS wird unter der Bezeichnung „Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ vollständig der Gemeinschaftsmethode unterworfen (Art. 67–89 AEUV), wohingegen die GASP im EUV und Angelegenheit des Rates bleibt. In Art. 3–6 AEUV findet sich erstmals eine Einordnung der Kompetenzen in die Kategorien ausschließlich, geteilt, koordinierend und unterstützend.[207]
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Verwaltungszusammenarbeit
Neu ist Art. 197 AEUV, der die effektive Durchführung des Unionsrechts durch die Mitgliedstaaten als Frage von gemeinsamem Interesse ausweist und der Union die Möglichkeit eröffnet, den Mitgliedstaaten in ihren Bemühungen um eine Verbesserung der Fähigkeiten ihrer Verwaltung zur Durchführung des Unionsrechts zu helfen.[208]
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Grundsatz des mitgliedstaatlichen Vollzugs
Nichtsdestotrotz liegt der Schwerpunkt des Vollzugs von Unionsrecht nach wie vor bei den einzelnen Mitgliedstaaten, wie Art. 291 Abs. 1 AEUV ausdrücklich anerkennt.[209]
2. Prinzipien
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Bestätigung grundlegender Prinzipien
Grundsätze, die sich im Laufe der Entwicklung herauskristallisiert haben, werden erneut bestätigt, namentlich das Prinzip der loyalen Zusammenarbeit (Art. 4 Abs. 3 UAbs. 2 und 3 EUV) sowie das Subsidiaritäts- und das Verhältnismäßigkeitsprinzip (Art. 5 Abs. 1 S. 1, Abs. 3, 4 EUV), deren Einhaltung nunmehr durch Kontroll- und Klagemöglichkeiten der mitgliedstaatlichen Parlamente flankiert wird (Art. 12 lit. b EUV).[210]
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Verbindlichkeit der Grundrechtecharta
Indem die Charta der Grundrechte der EU verbindlich wird (Art. 6 Abs. 1 EUV), werden auch die darin niedergelegten Grundsätze, die für die Verwaltung von besonderer Bedeutung sind und bereits als Grundsätze des Gemeinschafts- bzw. Unionsrechts Maßstab für das Verwaltungshandeln waren, geltendes Recht. Daneben bleiben die vom Gerichtshof als allgemeine Grundsätze in Anlehnung an die EMRK und aus den gemeinsamen Verfassungstraditionen entwickelten Grundrechte als Grundsätze bestehen.
a) Komitologie
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Neukonzeption der Komitologie
Eine erhebliche Veränderung betrifft die Komitologie, indem zwischen der Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen auf die Kommission auf der Grundlage von Gesetzgebungsakten nach Art. 290 AEUV und Durchführungsrechtsakten nach Art. 291 Abs. 2–4 AEUV unterschieden wird.[211] Im Rahmen der delegierten Rechtsetzung findet keine Komitologie statt. Vielmehr bestimmen Rat und Parlament die Reichweite der Delegation. Demgegenüber stehen die Durchführungsrechtsakte im Zusammenhang mit der Primärzuständigkeit der Mitgliedstaaten für den Unionsrechtsvollzug. Sie sind auf den Fall beschränkt, dass die Durchführung einheitliche Bedingungen erfordert. Wenn dies so ist, erfolgt die mitgliedstaatliche Mitwirkung im Wege der Komitologie, die auf der Grundlage von Art. 291 Abs. 3 AEUV erneut geändert wird.[212] Die Verfahren werden auf zwei Modelle reduziert, das Beratungsverfahren und das Prüfverfahren. Ein erhebliches Problem dieser Neugestaltung besteht in der allenfalls theoretisch klaren Abgrenzung zwischen delegierter Rechtsetzung mit weitgehenden Kontrollmöglichkeiten auch des Parlaments und Durchführungsrechtsakten, bei denen Rat und Parlament nun wieder auf eine Ultra-vires-Kontrolle beschränkt sind.
b) Agenturen
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Neufassung der Rechtsgrundlagen
Fast alle Agenturen, die vor dem Vertrag von Lissabon gegründet wurden, erhalten im Gesetzgebungsverfahren eine neue Rechtsgrundlage[213], womit eine Verbesserung der demokratischen Legitimation verbunden ist. In vielen Fällen erhält das Parlament erstmals die Berechtigung, Vertreter/-innen für den Verwaltungsrat zu bestimmen und wird die Rechenschaftspflicht auch ihm gegenüber eingeführt. Eine Neuerung im Primärrecht ist, dass Art. 88 Abs. 2 UAbs. 2 AEUV ausdrücklich die Einbeziehung der nationalen Parlamente in die Kontrolle von Europol verlangt.
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Bereich Asyl
Neu gegründet wird das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen 2010.[214] Seine Aufgabe ist die Mitwirkung bei der Umsetzung der Gemeinsamen Europäischen Asylpolitik (GEAS). Das Büro arbeitet mit Frontex, der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte, dem UNHCR sowie anderen relevanten internationalen Organisationen zusammen. Die Aufgaben von Frontex werden durch mehrere Rechtsakte erheblich ausgeweitet[215], namentlich ihre Möglichkeiten der Intervention vor Ort, was wiederum Rechtsschutzprobleme aufwirft.[216] Von großer Bedeutung für die Arbeit von Frontex ist das Europäische Grenzüberwachungssystem.[217]
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EU-LISA
Die Europäische Agentur für das Betriebsmanagement von IT-Großsystemen im Bereich Freiheit, Sicherheit und Recht wird im Jahr 2011 gegründet[218]. In ihrer Hand liegt das Betriebsmanagement des Schengener Informationssystems, des Visa-Informationssystems und von Eurodac. Weitere Zuständigkeiten zur Entwicklung und den Betrieb verschiedener Informationssysteme wurden ihr 2018 übertragen.[219]
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Agenturen der Finanzwirtschaft
Gleich drei Agenturen sind Folge der Finanzkrise, namentlich die Europäische Wertpapieraufsichtsbehörde[220], die Europäische Bankenaufsichtsbehörde[221] und die Europäische Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung[222].