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Aufgabenerweiterung der EZB
Die Übertragung von Aufgaben im Zusammenhang mit der Aufsicht über Kreditinstitute auf die Europäische Zentralbank[223] hatte in Deutschland Verfassungsbeschwerden zur Folge, mit denen Ultra-vires-Handeln der EZB und mangelnde demokratische Legitimation gerügt wurden. Unter Hinweis darauf, dass der EZB nur eine begrenzte Zuständigkeit übertragen und somit die Ermächtigungsgrundlage in Art. 127 Abs. 6 AEUV nicht überschritten worden sei, wies das Bundesverfassungsgericht den Ultra-vires-Vorwurf zurück. In Bezug auf die demokratische Legitimation hielt es die Rechtsschutzmöglichkeiten sowie die Rechenschafts- und Berichtspflichten gegenüber dem Rat, dem Europäischen Parlament, der Kommission und der Euro-Gruppe sowie gegenüber den nationalen Parlamenten für eine gerade noch hinreichende Kompensation des Fehlens hierarchischer Steuerung.[224]
4. Reformen im Bereich sonstiger Kooperationsformen
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Strukturfondsförderung
Auch wenn – abgesehen von hier nicht darzustellenden Strukturen zur Bewältigung der Eurokrise[225] – keine ganz neuen Formen der Kooperation mehr entstehen, befinden sich die vorhandenen Strukturen in einem permanenten Prozess der Reform. So ergeht 2013 eine neue Strukturfondsverordnung.[226] Sie enthält eine Neubestimmung der Ziele sowie Organisation und Verfahren betreffende Reformen. Neu ist der Erlass eines Gemeinsamen strategischen Rahmens für sämtliche ESI-Fonds.[227] Des Weiteren wird die Kommission ermächtigt, als delegierten Rechtsakt einen Verhaltenskodex für Partnerschaften zu erlassen. Zudem enthält die Verordnung ausführliche Regelungen zu den Verwaltungs- und Kontrollsystemen unter Bezugnahme auf die Haushaltsordnung.
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Haushaltsordnungsnovelle
Auch der Haushaltsvollzug wird neu geordnet.[228] Es wird nunmehr unterschieden zwischen direkter Mittelverwaltung, die auch durch Exekutivagenturen erfolgen kann, geteilter Mittelverwaltung mit den Mitgliedstaaten, welche die Grundlage auch für die Verwaltung der Strukturfondsmittel bildet, sowie der indirekten Mittelverwaltung, die acht Fallgruppen benennt und wodurch die bisherige gemeinsame und dezentrale Mittelverwaltung zusammengefasst werden. Die geteilte Mittelverwaltung wird in ihren Grundzügen in Art. 59 VO (EU, Euratom) Nr. 966/2012 entfaltet. Die Strukturfondsverordnung nimmt darauf Bezug und enthält die nähere Ausgestaltung. Eine erneute Reform der Haushaltsordnung mit Änderungen auch der Strukturfondsverordnungen erfolgte 2018.[229]
a) Art. 298 AEUV
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Rechtsgrundlage für die EU-Eigenverwaltung
Mit Art. 298 AEUV wird die EU-Eigenverwaltung erstmals ausdrücklich auf der vertraglichen Ebene erwähnt und eine Gesetzgebungsbefugnis zur Sicherung einer „offenen, effizienten und unabhängigen europäischen Verwaltung“ eingeräumt. Damit besteht eine Rechtsgrundlage für die Kodifikation eines allgemeinen Verwaltungsrechts der EU-Eigenverwaltung. Dies beförderte Projekte zur Ausarbeitung eines europäischen Verwaltungsverfahrensrechts. So legte das Research Network on EU Administrative Law (ReNEUAL) im September 2014 einen „Musterentwurf für ein europäisches Verwaltungsverfahrensrecht“ vor, der aus den Büchern Allgemeine Vorschriften, Verwaltungsrechtsetzung, Einzelfallentscheidungen, Verträge, Amtshilfe und Informationsmanagement besteht.[230] Während die Bücher II bis IV ausschließlich für die EU-Behörden gelten, beziehen sich die Bücher V und VI notwendig auch auf mitgliedstaatliche Behörden.[231] Mit diesem Projekt ist eine hervorragende Grundlage für eine Kodifikation des allgemeinen Teils des europäischen Verwaltungsrechts geschaffen, deren Umsetzung allerdings ebenso zweifelhaft ist wie die Reichweite der Kompetenz gemäß Art. 298 AEUV.
b) Migrationsrecht
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Reformen im Bereich Erwerbsmigration und Asyl
Im Bereich der Erwerbsmigration werden einige Richtlinien reformiert[232] und einige neu erlassen, namentlich die Saisonarbeiter-Richtlinie[233] und die Inter-Corporate Transfer-Richtlinie[234]. Im Bereich Asyl ergeht die Dublin III-Verordnung.[235] Sie enthält als Neuerungen u. a. ein Recht des Asylbewerbers auf Information, einen verstärkten Schutz von Minderjährigen sowie einen Mechanismus zur Frühwarnung und Krisenbewältigung. Ebenfalls neugefasst werden die Eurodac-Verordnung[236], die Anerkennungs-Richtlinie[237], die Aufnahme-Richtlinie[238] und die Asylverfahrens-Richtlinie[239], die nunmehr anstelle eines Mindeststandards einen gemeinsamen Standard für die Durchführung von Asylverfahren schafft. Dieses Regelungspaket reagiert auf den wachsenden Migrationsdruck, zeigt sich aber untauglich zur Bewältigung der Flüchtlingskrise im Jahr 2015.[240] Eine Lösung mit dem Ziel einer gerechten Verteilung der Flüchtlinge auf alle Mitgliedstaaten ist nicht in Sicht.[241]
c) Weitere Reformen
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Beihilfenverfahrensverordnung
In fast allen Bereichen zeichnet sich die Rechtsentwicklung durch kontinuierliche Reformen aus. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang die Neufassung der Beihilfenverfahrensverordnung[242], die am Prüfverfahren und an der Verpflichtung zur Rückforderung rechtswidriger Beihilfen nichts Wesentliches ändert, die Kommission jedoch mit zusätzlichen Befugnissen ausstattet, Verjährungsvorschriften einführt und Regelungen zur Zusammenarbeit mit den Gerichten der Mitgliedstaaten enthält.
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Datenschutz-Grundverordnung
Auswirkungen auf praktisch alle Lebensbereiche hatte zudem die Ersetzung der Datenschutz-Richtlinie durch die Datenschutz-Grundverordnung.[243] Mit ihr sollen angesichts der massiven Zunahme des Datenverkehrs im Binnenmarkt die datenschutzrechtlichen Anforderungen unter Sicherung eines hohen Datenschutzniveaus im Sinne von Art. 8 GRCh vereinheitlicht werden. Insbesondere die Verpflichtung zu einer ausdrücklichen Einwilligung in die Verarbeitung der personenbezogenen Daten und diesbezügliche Informationspflichten erforderten umfängliche Anpassungen in den Datenverarbeitungsprogrammen von Behörden und Unternehmen.
6. Zwischenfazit
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Stand der Integration
Der Vertrag von Lissabon hat die Verwaltung als Funktion im Primärrecht sichtbarer gemacht. Die Finanzkrise und die Migration als zentrale Herausforderungen führten zur Errichtung neuer Agenturen und zur Ausweitung der Aufgaben bestehender Agenturen. In weiteren zentralen Bereichen setzte sich die Reform der Reform fort. Für eine Kodifikation des Eigenverwaltungsrechts gibt es inzwischen die Rechtsgrundlage wie auch Entwürfe aus der Wissenschaft; der Wille zur Umsetzung scheint der Kommission aber zu fehlen.
I. Vom Gemeinsamen Markt zum Gemeinsamen Lebensraum
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Stetige Kompetenzausweitung
Vergegenwärtigt man sich die Entwicklungen von den Anfängen der europäischen Integration bis heute, wird erkennbar, dass die Verwaltungsaufgaben von den Römischen Verträgen über die EEA, die Verträge von Maastricht, Amsterdam und Nizza bis Lissabon sich von der Sicherung eines gemeinsamen Marktes zur Sicherung eines gemeinsamen Lebensraums entwickelt haben.[244] Wenn auch in unterschiedlicher Intensität erstrecken sich die Kompetenzen der EU inzwischen auf praktisch