VI. Die Rolle des EuGH im Verwaltungsverbund
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Überragende Bedeutung des EuGH
Schließlich kann die Rolle des EuGH für die europäische Integration nicht hoch genug eingeschätzt werden. Die Urteile zur Direktwirkung und zum Vorrang des Gemeinschaftsrechts haben den supranationalen Charakter der Gemeinschaft begründet.[256] Die Entscheidungen zu den rechtsstaatlichen Anforderungen an das Verwaltungshandeln, zur unmittelbaren Wirkung von Richtlinien, zu subjektiven Rechten, zum effektiven Rechtsschutz wie auch zur demokratischen Legitimation im Verwaltungsverbund sind für die Begründung der Europäischen Union als Rechtsgemeinschaft fundamental. Die Vertragsverletzungsverfahren, mehr noch die Vorabentscheidungsverfahren wirken auf ein einheitliches Verständnis des Unionsrechts hin. In seiner Bereitschaft, die Kompetenzen der Unionsorgane im Zweifel weit auszulegen, stößt der EuGH inzwischen allerdings nicht nur in Deutschland auf Souveränitätsvorbehalte.[257]
VII. Ausblick
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Europäische Integration als Lernprozess
Der hier vorgelegte Bericht über 70 Jahre europäische Integration in verwaltungsrechtlicher Perspektive zeigt einen Prozess ständigen Lernens, der zwar manchmal stockt, aber nicht stehen bleibt. Motor der Entwicklung sind dabei neben dem EuGH und der Kommission auch die Mitgliedstaaten, die durch neue Verträge die Kompetenzen der Union stetig ausgeweitet haben.
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Aktuelle Herausforderungen
Aktuell steht die Europäische Union vor gewaltigen Herausforderungen: Finanzkrise, Flüchtlingskrise, Brexit, Rechtsstaatskrise in einigen Mitgliedstaaten, zuletzt die Corona-Krise. Unter dem Eindruck der Divergenzen im Europa der 27 mit ihrer höchst unterschiedlichen Wirtschaftskraft, unterschiedlichem Selbstverständnis und unterschiedlichen Interessen hat die Kommission anlässlich des 60-jährigen Jubiläums des europäischen Integrationsprozesses ein Weißbuch mit fünf Szenarien zur Wahrung der Einheit in der EU vorgelegt. Sie reichen von weiter so wie bisher über verstärkte Zusammenarbeit einzelner Mitgliedstaaten, eine Konzentration auf den Binnenmarkt oder auf andere einzelne Bereiche bis hin zu einer noch weitergehenden Vergemeinschaftung.[258] Welche Richtung auch eingeschlagen wird, benötigt die Bewältigung der Krisen jedenfalls mehr Zusammenhalt, nicht weniger. Die Verwirklichung einer demokratischen und rechtsstaatlichen Europäischen Union ist ohne Alternative und bleibt eine ebenso notwendige wie lohnende Daueraufgabe.
D. Bibliografie
Armin von Bogdandy/Sabino Cassese/Peter M. Huber (Hg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd. III – IV, 2010, 2011, jeweils der 2. Abschnitt.
Josef Falke, Komitologie – Entwicklung, Rechtsgrundlagen und erste empirische Annäherung in: Christian Joerges/Josef Falke (Hg.), Das Ausschusswesen der Europäischen Union, 2000, S. 43–159.
Dorothee Fischer-Appelt, Agenturen der Europäischen Gemeinschaft, 1999.
Thomas Groß, Verantwortung und Effizienz in der Mehrebenenverwaltung, in: VVDStRL 66 (2007), S. 152–180.
ders., Die Legitimation der polyzentralen EU-Verwaltung, 2015.
Theresa Ilgner, Die Durchführung der Rechtsakte des europäischen Gesetzgebers durch die Europäische Kommission, 2014.
Wolfgang Kahl, Der Europäische Verwaltungsverbund – Strukturen – Typen – Phänome, Der Staat 50 (2011), S. 353–387.
Ute Mager, Entwicklungslinien des Europäischen Verwaltungsrechts, in: Peter Axer/Bernd Grzeszick/Wolfgang Kahl/Ute Mager/Ekkehart Reimer (Hg.), Das Europäische Verwaltungsrecht in der Konsolidierungsphase. Systembildung – Disziplinierung – Internationalisierung, Die Verwaltung Beih. 10, 2010, S. 11–38.
Anna Katharina Mangold, Gemeinschaftsrecht und deutsches Recht, 2011.
Andreas Orator, Möglichkeiten und Grenzen der Einrichtung von Unionsagenturen, 2017.
Eckhard Pache, Verantwortung und Effizienz in der Mehrebenenverwaltung, in: VVDStRL 66 (2007), S. 106–151.
Hans-Werner Rengeling, Deutsches und Europäisches Verwaltungsrecht – wechselseitige Einwirkung, in: VVDStRL 53 (1993), S. 202–239.
Eberhard Schmidt-Aßmann, Deutsches und Europäisches Verwaltungsrecht, DVBl 1993, S. 924–936.
Jens-Peter Schneider/Herwig C. H. Hofmann/Jacques Ziller, Die ReNEUAL Model Rules 2014: Ein Verwaltungsverfahrensrecht für Europa, JZ 2015, S. 265–271.
Bettina Schöndorf-Haubold, Die Strukturfonds der Europäischen Gemeinschaft. Rechtsformen und Verfahren europäischer Verbundverwaltung, 2005.
Gernot Sydow, Verwaltungskooperation in der Europäischen Union, 2004.
Wolfgang Weiß, Der Europäische Verwaltungsverbund, 2010.
Manfred Zuleeg, Deutsches und Europäisches Verwaltungsrecht – wechselseitige Einwirkung, in: VVDStRL 53 (1993), S. 154–201.
E. Abstract
1. | The aim of the European integration process is to create an ever closer union among the peoples of Europe. European administrative law can serve as an example of this process (par. 1–3). |
2. | In the first thirty years, the ECJ in particular decisively shaped the character of the European Economic Community (EEC) as a supranational community of law. The Court developed basic constitutional requirements for administrative action. Comitology, as a means of coping with the dualism between Community interests and Member State interests, and agencies, as a means of exchanging information, coordinating Member State policies in specific areas and providing the Commission with a basis for decision-making, are tested and have proven their worth. The first forms of administrative cooperation are emerging (par. 4–27). |
3. | As part of the single market initiative, the EEC enacts a large amount of innovative legislation in the fields of public procurement, product safety, telecommunications, and, in particular, environmental protection. In addition to emerging structural fund support, the first legal bases for transnational administrative acts have been adopted (par. 28–40). |
4. | The Treaty of Maastricht represents a substantial deepening of integration, not only in terms of monetary union but also regarding a union of values. At the same time, the Member States are making their reservations about sovereignty clear by explicitly formulating the limits on EC competences and emphasising their national identity. Migration, with its attendant security problems, is becoming a relevant policy area. Transnational administrative enforcement is becoming increasingly important. In environmental law, the cross-media approach is gaining ground, and the EC is testing new soft management methods, particularly in the area of economic policy (par. 41–54). |
5. |
In the ten years between Amsterdam/Nice and Lisbon, the Union’s legal order was subject to a constant process of reform. For example, the budgetary law and structural fund support were amended, anti-trust control was transformed into an enforcement network, the regulation of the telecommunications markets was consolidated, the energy markets were liberalised, and public procurement law was reformed. In environmental legislation, the Water Framework Directive and the Emission Allowances Directive implemented new approaches. Immigration and asylum law continued to gain importance, and the Services Directive challenged national administrative
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