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Hinsichtlich der konzeptionellen Ausgestaltung eines künftigen deutschen Verbandsstrafrechts sind im Wesentlichen vier Grundmodelle denkbar. Sie spiegeln im Ausgangspunkt die jeweilige Antwort auf die Frage der Schuldfähigkeit von juristischen Personen wider:
1. Vicarious liability-Modell
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In den USA[415] wurde die Anerkennung eines Unternehmensstrafrechts dadurch begünstigt, dass dort Straftatbestände existieren, die kein Verschulden voraussetzen (absolute/strict liability), und durch die Übertragung der zivilrechtlichen „respondeat-superior-Doktrin“ auf das Strafrecht vollzogen. Danach „haftet“ das Unternehmen „strafrechtlich“ – unabhängig von einem Verbandsvorsatz oder Verbandsverschulden – für jede von einem Mitarbeiter im Rahmen seines Beschäftigungsverhältnisses und im Interesse des Unternehmens begangene Straftat (vicarious liability). Die notwendige Restriktion dieser enorm weiten und auch in den USA nicht unumstrittenen[416] Verantwortlichkeit, die einer „Zufallshaftung“[417] gleichkommt, erfolgt erst bei der Strafverfolgung, da den Staatsanwaltschaften ein sehr weites Verfolgungsermessen zusteht.[418] Mit Blick auf dieses Modell dürfte Jäger[419] für die Einführung einer „handlungs- und schuldunabhängigen Unternehmensstrafe“ im Rahmen einer zu schaffenden „dritten Spur“ des Strafrechts plädiert haben. Grundlage soll eine „an den Grundsätzen der Spezial- und Generalprävention orientierte Zuschreibung von Verantwortung für fremdes Handeln und fremde Schuld“ sein, eine „fiktive Gesamtverantwortung“, die daraus resultiert, „dass die Straftat dem Organisationskreis des Unternehmens“ entspringt. Auch Ransiek[420] hat sich für eine „Haftung“ des Unternehmens für das Verhalten aller Arbeitnehmer in Form einer „Unternehmenssanktion“ ausgesprochen, die er aber als „nicht strafrechtlich“ bezeichnet. Für diese Ansätze spricht, dass die Einführung schuldunabhängiger „Strafen“ bzw. „Sanktionen“ denkbar ist, wenn das jeweilige Verfassungsrecht und Rechtssystem nicht entgegensteht. Im deutschen Recht wird jedoch (bislang) streng zwischen (repressiven und präventiven) „Strafen“, für die der Schuldgrundsatz gilt, und (rein präventiven) schuldunabhängigen „Maßregeln“ unterschieden. Diese grundlegende Differenzierung, die im Hinblick auf die unterschiedlichen Voraussetzungen und Rechtsfolgen überzeugt, würde durch eine „dritte Spur“ verwischt und der Schuldgrundsatz ausgehebelt.
2. Maßregelmodelle
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Mit den Maßregelmodellen[421] wird der Versuch unternommen, die Zweispurigkeit des deutschen Strafrechts zu nutzen und ein „Verbandsstrafrecht“ einzuführen, das kein Verschulden voraussetzt. Danach wäre zwar nicht die Anordnung von „Strafen“, aber von (rein präventiven) schuldunabhängigen Maßregeln möglich, um weiteren Straftaten entgegenzuwirken. So hat Schünemann[422] die Einführung einer Unternehmenskuratel als „Ei des Kolumbus“ bezeichnet. Hierbei wird ein Unternehmen unter die Aufsicht eines Kurators gestellt, der „durch seine umfassende Ausgestaltung mit bloßen Informationsrechten jenen gestörten Informationsfluss im Unternehmen optimieren [soll], dessen Mängel eine ganz wesentliche Ursache der Unternehmenskriminalität sind“, und dessen Bestellung öffentlich zu kommunizieren ist.[423] Maßregelmodelle haben den Vorteil, dass sie sich in das deutsche Strafrechtssystem ohne Konflikte mit dem Schuldgrundsatz integrieren lassen. Nachteil
3. Modell originärer Verbandsverantwortlichkeit
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Das Modell der originären Verbandsverantwortlichkeit knüpft an ein „eigenes“ Verschulden des Verbands in Form eines Organisationsverschuldens an (single-crime-approach). Entsprechende Modelle, die eine „zweite Spur“ der Strafe für Verbände eröffnen, haben Heine[428] und Kohlhof[429] entworfen. An ein Organisationsverschulden knüpfen im Kern sowohl das schweizerische Recht[430] als auch der Entwurf eines deutschen Verbandsstrafgesetzbuchs an (Rn. 126 ff.). Das Modell der originären Verbandsverantwortlichkeit hat den Vorteil, dass das Konfliktpotential mit dem Schuldgrundsatz des Individualstrafrechts gering ist, da das Verbandsstrafrecht die Voraussetzungen und Rechtsfolgen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit eigenständig festlegen, also etwa ein „Strafgeld“[431] statt einer Geldstrafe vorsehen kann. Außerdem ist die Strafbarkeit gerade dann begründbar, wenn klare Organisationsstrukturen fehlen. Nachteil ist jedoch, dass eine „originäre“ Verbandsschuld anerkannt werden müsste, ein „originäres“ Verschulden aber nur Menschen vorgeworfen werden kann (Rn. 67). Zudem darf im deutschen Strafrecht die Schuld nicht unwiderlegbar fingiert werden, es muss der Nachweis fehlenden Organisationsverschuldens möglich sein (Rn. 68). Damit könnten aber die Fälle nicht erfasst werden, in denen von Leitungspersonen Straftaten begangen, angeordnet bzw. geduldet werden, die durch eine grds. hinreichende Compliance-Organisation nicht hätten verhindert bzw. erschwert werden können. Insgesamt betrachtet wäre die Verbandsverantwortlichkeit durch die Anknüpfung an ein Organisationsverschulden zu „eng“ und bliebe hinter der durch § 30 OWiG normierten Verbandsverantwortlichkeit zurück. Im Übrigen erscheint es fraglich, dass es zur Sanktionierung einer mangelhaften Organisation tatsächlich des Einsatzes des Strafrechts bedarf.[432]
4. Zurechnungs- oder Repräsentationsmodell
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Das Zurechnungsmodell rechnet die Schuld einer Leitungsperson dem Verband als „eigene“ Verbandsschuld zu und wird auch als Repräsentationsmodell oder Identifikationsmodell bezeichnet (zur Zurechnung des schuldhaften Verhaltens weiterer Verbandsangehöriger gemäß einem „gemischten Modell“ Rn. 73). Die kumulative Strafbarkeit des Verbands hängt hier davon ab, dass eine Leitungsperson schuldhaft gehandelt bzw. unterlassen hat und ist damit akzessorisch an das Individualstrafrecht