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Die Gegner eines Verbandsstrafrechts halten dem entgegen, dass das bestehende System funktioniert.[369] So lobt Schünemann[370] die „herausragende Intensität“, mit der die Staatsanwaltschaften die Wirtschaftskriminalität bekämpfen und führt an, dass ihnen bereits heute mit §§ 30, 130 OWiG eine „starke Waffe in die Hand gegeben“ sei, von der „steigender Gebrauch“ gemacht werde. Die BRAK[371] bezeichnete im Jahr 2013 die Vorstellung einer „Gleichbehandlung“ durch Einführung eines Verbandsstrafrechts als „lebensfremd“, da dann die Möglichkeiten der Verständigung noch stärker genutzt und größere und finanzkräftige Unternehmen gegenüber kleineren bevorzugt würden; zudem würde der Prozess der „Ökonomisierung“ und Privatisierung“ von Strafverfahren verstärkt. Von anderen werden vermehrt „Bauernopfer“ bzw. Verständigungen zu Lasten von Mitarbeitern befürchtet.[372] Behauptungen, die Wirtschaftskriminalität werde nicht gleichmäßig verfolgt oder Verfahren fänden unbemerkt von der Öffentlichkeit statt, seien nicht nachvollziehbar: Die verpflichtend vorgesehene Weitergabe von Erkenntnissen aus der steuerlichen Betriebsprüfung über Unregelmäßigkeiten an die Ermittlungsbehörden führe bereits zu einer „quasi-automatischen Verfolgung“; zudem würden die bisherigen Verfahren in der Öffentlichkeit, gerade wenn es um DAX-Unternehmen gehe, durchaus wahrgenommen.[373]
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Die Bewertung dieses Streits wird erneut dadurch erschwert, dass umfassende empirische Daten zur Verfolgungspraxis fehlen. Die von den Befürwortern genannten Statistiken und Studien legen freilich nahe, dass das Potential der bestehenden Regelungen „bei weitem noch nicht überall genutzt oder gar ausgereizt wird“,[374] also Anwendungs- und Vollzugsdefizite[375] bestehen. Diese Defizite dürften jedoch nicht die (schweren) „Leuchtturm-Fälle“ (wie Siemens, VW) betreffen, da die Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten nicht im „freien“, sondern im „pflichtgemäßen Ermessen“ (§ 47 Abs. 1 OWiG) liegt. Bei der Ermessensausübung ist abzuwägen, ob unter Berücksichtigung der Bedeutung der Ordnungswidrigkeit und des Vorwurfs die Verfolgung und Ahndung angebracht ist; Leitgedanken bilden der Gleichheits- und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.[376] Folge dürfte sein, dass „schwere“ Fälle stets sowie „leichte“ Fälle kaum verfolgt und geahndet werden, im „mittleren“ Bereich dagegen das eröffnete Ermessen zum Tragen kommt. Freilich bestehen auch in der Praxis der Strafverfolgung „Spielräume“, da das Legalitätsprinzip durch die Einstellungsmöglichkeiten nach §§ 153 ff. StPO durchbrochen wird. An dem Umstand, dass das Verfahren zur Festsetzung von Verbandsgeldbußen durch hohe Einstellungsraten und eine überdurchschnittlich hohe Tendenz zu Verständigungen gekennzeichnet ist,[377] dürfte sich daher in einem künftigen Verbandsstrafverfahren voraussichtlich nicht viel ändern, zumal regelmäßig schwierige Beweisfragen zu klären sind.[378] Auch aus dem Ausland wird berichtet, dass die Zahl der geführten Strafverfahren gering ist.[379] Gleichwohl sollte der Übergang zum Legalitätsprinzip zur Folge haben, dass die Unternehmenskriminalität gerade im „mittleren“ Bereich gleichmäßiger und stärker verfolgt wird. Hierfür spricht auch, dass im Strafverfahren auf das volle Ermittlungsinstrumentarium – und nicht nur auf das eingeschränkte des Bußgeldverfahrens – zurückgegriffen werden kann, womit das Entdeckungsrisiko tendenziell steigt. Die moderne Sanktionsforschung zeigt, dass für die generalpräventive Wirkung einer Sanktion nicht so sehr deren Schärfe, sondern vor allem das Entdeckungsrisiko entscheidend ist.[380] Damit könnte – je nach Ausgestaltung – der kriminalitätsdämpfende Effekt eines Verbandsstrafrechts (deutlich) stärker sein.
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Soweit im bestehenden System Anwendungs- und Vollzugsdefizite bestehen, spricht dies aber nicht zwingend für die Einführung eines Verbandsstrafrechts, da ein gleichmäßigerer und stärkerer kriminalitätsdämpfender Effekt ebenso durch den Ausbau des bisherigen Systems und die Ausschöpfung des Instrumentariums erreicht werden kann. Zu denken ist hierbei nicht nur an die Schaffung von Leitlinien für die Ausübung des Verfolgungsermessens und von Richtlinien für die Zumessung der Verbandsgeldbuße,[381] sondern auch an die Schaffung zusätzlicher Ressourcen bei den Schwerpunktstaatsanwaltschaften für Wirtschaftskriminalität, bei den speziellen Abteilungen der Amtsgerichte und bei den Wirtschaftsstrafkammern der Landgerichte.[382] Schließlich könnte auch die internationale Kooperation weiter verstärkt werden.[383]
c) Rechtsschutz und richterliche Kontrolle
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Von Befürwortern eines Verbandsstrafrechts wird vorgetragen, dessen Einführung werde zu einem stärkeren Rechtsschutz der Beschuldigten und einer stärkeren richterlichen Kontrolle von Entscheidungen führen. Die bisherige Praxis habe „deutliche Züge eines Unternehmensstrafrechts“, allerdings mit dem Unterschied, dass die Position des Beschuldigten erheblich schlechter sei; im Bereich des Ordnungswidrigkeitenrechts und damit der „exekutivischen Erledigung“ sei die Beachtung von Verfahrensgarantien ungleich schwerer zu erzwingen als im Strafrecht, da Verwaltungssanktionen „weitgehend unkontrollierte Sanktionen“ seien.[384] Die Verfahren wären der richterlichen Kontrolle weitgehend entzogen, es würden ohne effektiven Rechtsschutz „Quasistrafen“ auferlegt, womit die Praxis Gefahr laufe, sich im „soft law des OWiG“ häuslich einzurichten und „nolens volens“ die Abwesenheit strafprozessualer Rechte zu etablieren.[385]
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Hiergegen hat Trüg[386] treffend eingewandt, dass es „überraschend“ anmutet, die „Schaffung eines materiellen Strafbarkeitsrisikos“ für Unternehmen könne „zur Verbesserung eines konstatierten prozessualen Missstands beitragen“. Im Übrigen besteht jedenfalls im Normalfall des verbundenen Verfahrens (Rn. 35) eine richterliche Kontrolle,[387] und auch im getrennten Verfahren ist gerichtlicher Rechtsschutz grds. erreichbar. Soweit in der Praxis Defizite vorhanden sein sollten, könnten die Rechtsschutzmöglichkeiten weiter ausgebaut[388] werden.
d) Gerichtsverfahren und Öffentlichkeit
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Von den Gegnern eines Verbandsstrafrechts wird angeführt, das Umschwenken zu einem strafrechtlichen System wäre nicht mehr als bloße „Symbolik“ und führe zu keinem nennenswerten Präventionsgewinn.[389] Es sei einerlei, ob die finanzielle Einbuße eine Geldbuße oder Geldstrafe ist, eine „Umetikettierung“ führe nicht zu einer effizienteren Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität.[390] Im Hinblick darauf, dass in der Bevölkerung geringe Kenntnisse der Dogmatik vorhanden seien, wäre das mit einer Strafe verbundene rechtstheoretische Unwerturteil weder für einen rational agierenden Beschuldigten noch für die Öffentlichkeit von Bedeutung.[391] Entscheidend sei die Zahlungsverpflichtung nebst deren Höhe.[392] Außerdem sorge bereits im bisherigen System die Medienberichterstattung über die strafrechtliche Verfolgung der Leitungspersonen für