3. Individualverantwortung
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Kontrovers wurde und wird diskutiert, ob das Individualstrafrecht zur effektiven Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität in der Rechtspraxis heute noch ausreichend ist.
a) Beweisnot und Verschleierung
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Angeführt wird von den Befürwortern eines Verbandsstrafrechts, dass in der Praxis bei Arbeitsteilungsprozessen große Aufklärungs- und Nachweisschwierigkeiten bestünden.[320] In modernen Unternehmensstrukturen würden Ausführungstätigkeit, Informationsbesitz und Entscheidungsmacht auseinander fallen. Komplexe und intransparente Strukturen, dezentrale Organisation und Lücken im Kommunikations- und Informationssystem würden die Aufklärung erschweren, zumal die Neigung bestehe, Probleme intern zu regeln und nach außen hin zu verbergen. Verstärkt werde dies dadurch, dass gruppendynamische Prozesse die Vorstellungen von Recht und Unrecht überlagern, Verhaltensweisen durch Druck „von oben“ und Loyalität zur Gemeinschaft „legitimiert“ werden könnten. Es drohe die „Verwischung“[321] der Individualverantwortung, „organisierte Unverantwortlichkeit“[322] bzw. „desorganisierte Unverantwortlichkeit“[323]. Selbst wenn ein Individualtäter identifiziert werde, sei der Vorwurf, der ihm gemacht werden könne, häufig gering. Zudem könne die Identifikation nicht nur etwas Zufälliges an sich haben („Pechvogel“), sondern dahinter könne sich auch eine gezielte Verschleierung verbergen („Bauernopfer“), um die tatsächlich Verantwortlichen zu schützen.[324]
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Dieser Argumentation ist jedoch entgegenzuhalten, dass die befürchtete Beweisnot durch „organisierte Unverantwortlichkeit“ mit empirischen Daten bislang nicht belegt ist und allenfalls sehr selten auftreten dürfte.[325] Im Regelfall sind klare Organisationsstrukturen und geordnete interne Kommunikations- und Informationssysteme vorhanden, werden Entscheidungen und Tätigkeiten fortlaufend dokumentiert.[326] Die Verantwortlichen werden daher ermittelt, auch und gerade in der Führungsebene.[327] Hierzu trägt vor allem § 130 OWiG bei, der die Leitungspersonen zur sorgfältigen Auswahl von Mitarbeitern, sachgerechten Aufgabenverteilung und Instruktion, ausreichenden Überwachung und zum Eingreifen bei Verstößen anhält. Gerade in Großunternehmen, aber auch in vielen anderen Unternehmen, wurden in den letzten Jahren verstärkt Compliance-Organisationen etabliert, die – worauf eine neuere empirische Studie[328] hindeutet – dort zu einem signifikanten Rückgang der Wirtschaftskriminalität geführt haben. In bestimmten Bereichen, wie bei Kredit- und Finanzdienstleistungsinstituten, ist die Einrichtung von Compliance-Organisationen sogar gesetzlich vorgeschrieben. Im Übrigen ist die Lösung von Beweisproblemen nicht die Aufgabe des materiellen Strafrechts, sondern des Prozessrechts.[329] Eine gezielte Verschleierung der wahren Verantwortung lässt sich auch durch die Einführung eines Verbandsstrafrechts nicht ausschließen.[330] Diesbezüglich wird auf die Erfahrungen in den USA verwiesen, wo von Unternehmen eine „Kooperation“ in Form der Belastung der für die Tat verantwortlichen Mitarbeiter erwartet wird, um die Bereitschaft zur Zusammenarbeit zu demonstrieren und damit eine Strafmilderung oder gar Verfahrenseinstellung zu erreichen.[331] Daher könnte auch in Deutschland der Druck auf die Unternehmen zunehmen, wenn nicht mehr bloße Geldbußen, sondern Geldstrafen drohen.[332]
b) Pflichten von Individualtätern und Zurechnungsstrukturen
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Für die Einführung eines Verbandsstrafrechts wird weiter angeführt, der Versuch, die Unternehmenskriminalität zu bewältigen, habe in der Rechtsprechung zu einer Überdehnung des Individualstrafrechts geführt.[333] Leitungspersonen seien immer strengere und häufig kaum noch erfüllbare Pflichten auferlegt worden (z.B. die strafrechtliche Geschäftsherrenhaftung), um zu einer Bestrafung zu gelangen. Auch Strafvorschriften, die an die Verletzung von Pflichten anknüpfen (z.B. § 266 StGB), seien so weit ausgedehnt worden, dass sie kaum noch dem Bestimmtheitsgebot genügen. Zudem seien bedenkliche Zurechnungsstrukturen anerkannt worden, wie die mittelbare Täterschaft kraft Organisationsherrschaft („Täter hinter dem Täter“) und die Mittäterschaft bei Leitungsgremien.[334] Ein Verbandsstrafrecht könne „Druck“ herausnehmen und bewirken, dass die Pflichten auf ein angemessenes Maß zurückgeführt und die Zurechnungsstrukturen auf ihren Kernbestand reduziert werden.
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Gegen diese Argumentation wird zu Recht eingewandt, dass die Rechtsprechung zwar in Einzelfällen zu weit gegangen sein mag, insgesamt aber keine Überdehnung festzustellen ist.[335] So lässt sich die „strafrechtliche Geschäftsherrenhaftung“, wonach Leitungspersonen für die Nichthinderung von Straftaten untergeordneter Personen als Garanten einstehen müssen, auf Verkehrssicherungspflichten stützen; außerdem bereitet der notwendige Nachweis der strafrechtlichen Beteiligung einer Leitungsperson in der Praxis angesichts der Anforderungen an Kausalität und subjektive Tatseite regelmäßig große Schwierigkeiten, weshalb regelmäßig auf § 130 OWiG ausgewichen wird.[336] Im Übrigen ist anzunehmen, dass die Rechtsprechung auch nach der Einführung eines Verbandsstrafrechts an bereits etablierten Zurechnungsstrukturen festhalten wird.[337]
c) Individualstrafandrohung und Freistellungsklausel
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Schließlich wird für ein Verbandsstrafrecht angeführt, dass sich die Geldstrafe eines Individualtäters nur an seinen persönlichen Verhältnissen orientiert, nicht aber an den wirtschaftlichen Verhältnissen des Unternehmens. Daher würden gegen Individualtäter