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Die „Neue Verwaltungsrechtswissenschaft“ übt nicht nur, sondern erntet auch massive Kritik, insbesondere ihre „Selbstausrufung“, die durch „Großschreibung den Anspruch auf die Verkörperung einer Epoche“ ankündige,[107] teils schon assoziiert mit „Neuer Republik“.[108] In der Tat stellt sich, wie vormals schon bei der Diskussion über das „Neue Verwaltungsrecht“, die Frage, inwieweit die „Neue Verwaltungsrechtswissenschaft“ mehr ist als eine „rein verbale Innovation“.[109] Ob sie am Ende einen „Quantensprung“ und „Traditionsbruch“ auslösen wird, bleibt abzuwarten.[110] Nüchterne Betrachtung anerkennt bereits jetzt die Bereicherung um „zusätzliche Themen und Perspektiven“ sowie die „sorgfältige Erweiterung und Ergänzung der Problemtafel“.[111]
c) Theorie und Methodik der Verwaltungsrechtswissenschaft
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Welche Methoden als Mittel und Wege der Problemlösung und Zielerreichung in der Verwaltungsrechtswissenschaft zur Anwendung kommen, hängt davon ab, was deren Aufgaben, Probleme und Ziele sind. Ihr liegt kein natürlich gegebener Gegenstand „Verwaltungsrecht“ zugrunde, der sich schlicht aus der Summe aller Rechtssätze einer festumrissenen und wissenschaftlich wohldefinierten Entität „Verwaltung“ ergeben würde. Vielmehr bedarf es zunächst einer Theorie dessen, was Verwaltungsrecht ausmacht und umfasst, die auch an einer Beschäftigung damit, wie der Bereich der „Verwaltung“ für ihre Zwecke sinnvoll aufgefasst werden kann, nicht vorbeikommt. Bereits dieser Bezugsrahmen, zu dem die Bestimmung der Ziele rechtswissenschaftlicher Forschung hinzutritt, sorgt für eine gehörige Komplexität des Methoden- und Theorieproblems und gestaltet sowohl die hiermit zumindest implizit belastete Wissenschaftstradition als auch die dies offen reflektierende gegenwärtige Diskussion zu einem „unübersichtlichen Terrain“.[112] Eine Reduktion der Verwaltungsrechtswissenschaft auf Normauslegung verfehlte folglich sowohl ihre historische als auch gegenwärtige Gestalt. Gewiss gehört auch die Interpretation verwaltungsrechtlicher Normen zum Beritt der Verwaltungsrechtswissenschaft, aber sie ist theoretisch voraussetzungsvoll jenseits der Fragen eines auf Textverständnis ausgehenden Methodenkanons. Auch und gerade das Wissenschaftsprogramm eines Otto Mayer zielte nicht primär auf gesetzespositivistische Erfassung und Auslegung eines gegebenen Normenbestandes. Im Sinne eines wissenschaftlichen Positivismus mit theoretischen wie politischen Hintergrundannahmen über das, was etwa Staatsgewalt und Rechtsstaatlichkeit bedeuten, ging es ihm vorrangig um eine Begriffs- und Typenbildung, die erst später, wenn auch nur teilweise, gesetzlich rezipiert wurde. Hieraus ergibt sich schon in den Anfängen eine Vielgestaltigkeit der juristischen Methode in der Verwaltungsrechtswissenschaft, die nicht klischeehaft verengt werden kann. Entsprechend voraussetzungsreich fällt der allgemeine Anspruch aus, in der Verwaltungsrechtswissenschaft „juristisch“ zu arbeiten. Was immer das im Einzelnen bedeuten mag, letztlich wird sich niemand von diesem Etikett verabschieden. In dieser unspezifischen Fassung kann die juristische Methode durchaus zur „Sinnmitte“ der (Verwaltungs-)Rechtswissenschaft erhoben werden[113] und lassen sich die ihr zugeordneten Funktionen unter anderem von Rationalitätsgewähr, Orientierungssicherheit, Entlastung und Kontrolle[114] als Funktionen modernen Rechts und seiner wissenschaftlichen Abbildung verstehen.
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Einen zentralen methodologischen Ausgangspunkt bildet die Normativität des Verwaltungsrechts, was auf der einen Seite die Eigentümlichkeiten und den Eigensinn von Recht markiert und eine Konzentration auf die Aufbereitung „normativen Wissens“ verlangt,[115] auf der anderen Seite die Bewirkungsfunktion von Rechtstexten unterstreicht, die es durch die Rechtsarbeit wirksam zu entfalten gilt.[116] In einem starken Sinne wird Normativität als „Wirklichkeitsphänomen“, als „fester Bestandteil“ der gesellschaftlichen Realität begriffen[117] und dem disziplinären Diskurs sogar anempfohlen, einmal die „Perspektive umzudrehen“ und die „juristische Rekonstruktion der Verwaltung den Sozialwissenschaften als ein Beschreibungsangebot zu unterbreiten“, zumal es in der Tat „keine Verwaltung ohne Verwaltungsrecht“ gibt.[118] Da Normen nicht nur im strikten Sollensmodus nach ihrem Geltungssinn mit spezifisch normativen Methoden bearbeitet werden können, sondern auch einer deskriptiven Erfassung zugänglich sind, erscheinen damit Brückenschläge zu empirisch verfahrenden Wissenschaften keineswegs ausgeschlossen.[119] Die hochgradig normative Verfassung der Verwaltung nicht nur, aber ganz wesentlich durch positives Verwaltungsrecht sichert spezifisch juristischen Methoden in der Verwaltungsrechtswissenschaft wie auch in der Verwaltungs- und Verwaltungsgerichtspraxis einen hohen Stellenwert und stellt Rechtsdogmatik „als ein innersystematisch erarbeitetes Gefüge juristischer Begriffe, Institutionen, Grundsätze und Regeln“[120] unabkömmlich, ohne eine Abkapselung von nicht-dogmatischen Zugangsweisen zu erzwingen. In der modernen Forschung stehen von daher Aufgaben kontinuierlicher Systembildung und stabilisierender Systemnutzung neben einem steuerungswissenschaftlich begründeten Interesse an der Wirkungsdimension des Rechts,[121] einschließlich der nicht-normativen Bedingungen jener Praxis, die das Verwaltungsrecht verfasst und seine Wissenschaft folglich mitreflektiert. Überscharfe Kontrastierungen von einerseits normativ-dogmatischer und andererseits interdisziplinärer Verwaltungsrechtswissenschaft[122] verkennen die gegenwärtigen Entwicklungstendenzen und verschenken fruchtbare Verknüpfungsmöglichkeiten.
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Das Verwaltungsrecht als normativer Gegenstandsbereich der Verwaltungsrechtswissenschaft bildet eine ausgesprochen heterogene Materie mit unscharfen Rändern, die sich zudem im Umbruch befindet. Haben sich traditionell etwa Theorien daran abgearbeitet, öffentliches Recht, einschließlich des Verwaltungsrechts, vom Privatrecht abzugrenzen,[123] so gilt ein rein öffentlich-rechtliches Verständnis des Verwaltungsrechts inzwischen als „verkürzend“[124] und findet das „Verwaltungsprivatrecht“ sein Pendant in einem „Privatverwaltungsrecht“.[125] Schon angesichts der Vernetzung der Rechtsschichten im Europäischen Verwaltungsverbund zu einem „polykratischen Rechtsgefüge“[126] steht der Bedarf einer theoretischen „Neukonzeption“ der Rechtsquellenlehre „außer Frage“, wobei das Recht der Europäischen Union in Lehrbuchdarstellungen an die „Spitze“ gehören soll.[127] Hinzu treten die verstärkten Einwirkungen des internationalen Rechts, die Regelungen transnationaler Kooperation, aber auch die zunehmende Bedeutung von sog. Soft Law.[128] Die Arbeitsweise schwankt zwischen einer deskriptiven Erfassung von Neuerungen und einer normativ-präskriptiven Verarbeitung und Zensur nach Maßgabe der jeweiligen als „höherrangig“ insinuierten, die Rechtserzeugung steuernden Normen. Die hierbei zugrundegelegten Theoriemodelle müssen nicht zwangsläufig durchgängig hierarchisch aufgebaut sein.[129] In das Gravitationsfeld des Gemeinschafts- bzw. Unionsrechts geraten ist beispielsweise die klassische deutsche Diskussion um die Rechtssatzqualität des sog. Innenrechts, insbesondere der unterschiedlichen Arten von Verwaltungsvorschriften, die auch nach Überwindung der „Impermeabilitätsdoktrin“ von verfassungspolitisch motivierten theoretischen Prämissen getragen wird.[130] Systemprägend wirkt schließlich das Verfassungsrecht, das mit unterschiedlichen verfassungstheoretischen Akzentuierungen, sei es der demokratischen Steuerung, sei es der rechtsstaatlichen Rechtsschutzperspektive,[131] über sektorale Einwirkungen hinausgeht.[132]
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Methodisch zu bewältigen sind die vielfältigen, mehr oder minder verwaltungsrechtlich determinierten Erscheinungsformen der modernen Verwaltung. Mal tritt sie als Adressat von Rechtsnormen, mal als rechtlich ermächtigter und partiell gebundener Rechtsetzer, mal als Partner kooperativer Regelung, ggf. auf privatrechtlichem Territorium mit der Folge von Regimekollisionen, dann als rechts- und regelungsscheuer