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Rechtspolitische Anstöße, insbesondere in Richtung einer eigenständigen Verwaltungsgerichtsbarkeit, vermittelte der rechtsliberale Rudolf von Gneist, der ausgehend vom englischen Verwaltungsrecht und der Idee des selfgovernment mit zahlreichen rechtsvergleichend gehaltenen Schriften für Rechtsstaatlichkeit und Selbstverwaltung eintrat, unter anderem für eine ehrenamtliche Beteiligung an der Verwaltung, um so den Gegensatz zwischen Obrigkeit und Bürger abzumildern. So resümierte er 1869 im Vorwort zu „Verwaltung – Justiz – Rechtsweg. Staatsverwaltung und Selbstverwaltung nach englischen und deutschen Verhältnissen“ die Vorbildwirkung der „Vergangenheit und Gegenwart Frankreichs und Englands“ für die bürgerliche Freiheit in Deutschland. Insgesamt neigte von Gneist zu einer Idealisierung der englischen Verhältnisse, denen er das unter dem Partikularismus der Klassen leidende französische System diametral entgegensetzte. Das deutsche Staats- und Verwaltungswesen schien ihm dagegen insbesondere auf Grund der ausgeprägten gesellschaftlichen Harmonie durchaus ebenbürtig. Von Gneists rechtsvergleichende Methode zielte keineswegs auf eine kritiklose Rezeption von historisch und sozial inkompatiblem fremden Recht, sondern auf ein auf die deutschen Verhältnisse und Reformbedürfnisse passendes Destillat. In den universal angelegten Arbeiten von Gneists wie auch von Steins spiegelt sich in gewissem Maße auch das Nachglimmen des alten Polizei- und Wohlfahrtstaatsgedankens wider. Der aufkommende Rechtsstaat führte allerdings zu einer Funktionsverlagerung der Verwaltung von der vorsorgenden zur vollziehenden Gewalt, wodurch das „Verwaltungsrecht die gültige und äußerliche Formulierung der Verwaltung selbst“ wurde.[21]
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Die Schwächen der zunächst vorherrschenden staatswissenschaftlichen Darstellung der verwaltungsrechtlichen Materien lagen auf der Hand. Noch einer Stoffordnung nach Verwaltungszweigen und einer entsprechend additiven wie narrativen Darstellungsweise verpflichtet, vermochte sie kaum, Gemeinsamkeiten und Querverbindungen zwischen den einzelnen Materien des Verwaltungsrechts herauszuarbeiten. Aufgrund dieser Systematisierungsdefizite war die Entwicklung eines veritablen Allgemeinen Teils des Verwaltungsrechts nicht zu erreichen, obwohl entsprechende Versuche einzelner Vertreter dieses Ansatzes zu verbuchen sind. Dem Durchbruch zum Allgemeinen Teil im Wege stand auch ein Ballast an heute mitunter abstrus anmutenden volkswirtschaftlichen, technischen, historischen und politischen Argumentationsführungen und Erwägungen.
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Letzteres durchaus auch als Stärke der staatswissenschaftlichen Herangehensweise anerkennend, die durch den „Anschluß an das System der Verwaltungslehre“ ein „umfassendes Kulturbild der Gegenwart“ liefere und „künftigen Geschlechtern vielleicht noch interessanter sein“ werde als die Sicht der „rein juristischen Seite“[22], hat Otto Mayer die juristische Methode in der Verwaltungsrechtswissenschaft auf ihren „unübertroffenen Höhepunkt geführt“[23]. Er gilt als der „eigentliche Schöpfer und Klassiker der modernen deutschen verwaltungsrechtlichen Methode“[24], in der politische und historische Erwägungen weitgehend eliminiert waren. Ihm gelang die Herausarbeitung verwaltungsrechtlicher Institute und eines Allgemeinen Teils des Verwaltungsrechts, dem auf Grund des erreichten Abstraktionsgrades eine starke Folgewirkung vergönnt war. Unter Konzentration auf die Rechtsform prägte er bis heute relevante Grundbegriffe des „wohlgeordneten Verwaltungsrechts“ des bürgerlichen Rechtsstaates, unter anderem den „Verwaltungsakt“, den „Vorrang“ und den „Vorbehalt des Gesetzes“, um so der Herrschaft des Gesetzes auch im Einzelfall die Bahn zu ebnen.[25] War namentlich der Verwaltungsakt der zeitgenössischen Wissenschaft durchaus geläufig, Mayer gestaltete ihn, orientiert an der Urteilsähnlichkeit des französischen acte administratif, zu einem der Verwaltung zugehörigen obrigkeitlichen Ausspruch, „der dem Untertanen im Einzelfall bestimmt, was für ihn Rechtens sein soll“.[26] Mayer hatte neun Jahre vor Erscheinen des ersten Bandes seines Hauptwerkes „Deutsches Verwaltungsrecht“ (2 Bde., 1895/1896) in einer richtungsweisenden Monographie die französische Verwaltungsrechtswissenschaft dargestellt,[27] die anders als das anglo-amerikanische Verwaltungsrecht in den europäischen Staaten des ausgehenden 19. Jahrhunderts vielfältig rezipiert wurde und als die international elaborierteste galt. Sein rechtsvergleichendes Projekt verfolgte er dabei zunächst im Wege einer systematischen Durchbildung des ihm keineswegs hinreichend geordnet und allgemeingültig erscheinenden französischen Verwaltungsrechts. Mayer entwickelte hierzu Ordnungsbegriffe und begründete ein neues Darstellungssystem, nicht mehr ausgerichtet an den Zuständigkeiten, wie bei den französischen Juristen, sondern am Modus, am „Wie“ des Verwaltungshandelns, d.h. an den Einwirkungsformen der Exekutivgewalt. So verlieh er anknüpfend an seine am französischen Recht entwickelte Systematisierung auch der deutschen Wissenschaft vom Verwaltungsrecht eine neue Gestalt mit sehr eigenständiger Ausrichtung, nicht zuletzt einseitig auf die obrigkeitlich auftretende, befehlende und eingreifende Verwaltung.
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Der programmatische Verzicht auf die Berücksichtigung administrativer Zweckkategorien und die Reduktion des Verwaltungsrechts auf eine Rechtsformenlehre barg das Risiko, die Rückbindung an die Verwaltungswirklichkeit einzubüßen. Bereits Loening hat die Ausblendung der Verwaltungszwecke moniert und Mayer „Begriffsphantasien“ vorgeworfen, „die mit den realen Rechtsinstituten nichts gemein haben“.[28] In Deutschland wie in Frankreich stieß die juristische Methode denn auch auf Widerstand vornehmlich in den Reihen der Verwaltungspraktiker, in geringerem Maße aber auch in der Richter- und Professorenschaft, sollten sich die verwaltungspolitischen Argumentationsmuster doch als überaus stabil erweisen. Gänzlich überholt erscheint heute Mayers doktrinäre Ablehnung des öffentlich-rechtlichen Vertrages, die aus einer überscharfen Trennung von subordinationsrechtlich geprägtem öffentlichen Recht und auf Gleichordnung angelegtem Zivilrecht resultierte.[29] Die auf dem Gebiet der Daseinsvorsorge tätige und leistende Verwaltung hat Mayer auch bei seinen grundlegenden Ausführungen zur öffentlichen Anstalt nicht ausreichend in den Blick genommen. Die Fundamente der modernen Verwaltungsrechtswissenschaft beruhen so auf einem Akt absichtsvoller Selbstbeschränkung und der Ausklammerung gerade der modernen Seite der zeitgenössischen Verwaltung und ihres Rechts.[30] Mayer ging es um die Entwicklung eines veritablen allgemeinen Teils des Verwaltungsrechts, der mit den Ordnungsfiguren und Instrumenten der staatswissenschaftlichen Methode nicht einzulösen war und dessen Ausarbeitung unter der Berücksichtigung noch unausgegorener, sich im Fluss befindlicher Rechtsentwicklungen möglicherweise gelitten hätte.
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In einer bis zum Ersten Weltkrieg währenden Phase der Konsolidierung dominierte Mayers formalistischer Ansatz, der wirkmächtig in Fritz Fleiners „Institutionen des Deutschen Verwaltungsrechts“ (11911) fortgeschrieben, im Fortgang der insgesamt acht Auflagen (81928) jedoch zunehmend modifiziert und aktualisiert wurde.[31] In diese Zeit bürgerlicher Sekurität fallen zentrale rechtsdogmatische Monographien unter anderem zum fehlerhaften Staatsakt und zur Ermessenslehre aus der Feder des jungen Walter Jellinek,[32] Karl Kormanns Versuch zu einem „System der rechtsgeschäftlichen Staatsakte“ (1910) sowie Ottmar Bühlers Studie über „Die subjektiven öffentlichen Rechte und ihr Schutz in der deutschen Verwaltungsrechtsprechung“ (1914). Der spätestens mit der Kriegswirtschaft und Kriegsfolgenbewältigung unübersehbar gewordene Ausbau des Interventionsstaates mit seinem ungeheuren Aufgabenzuwachs[33] ließ Bühler 1919 eine gewaltige Umstellung von Verwaltung und Verwaltungsrechtslehre diagnostizieren, nicht zuletzt auch eine Schwerpunktverlagerung vom Landes- auf das Reichsrecht.[34] Mayers vielzitiertem Diktum aus dem Vorwort zur dritten Auflage seines Verwaltungsrechtslehrbuches vom August 1923 „Verfassungsrecht vergeht, Verwaltungsrecht besteht“ widersprach Fleiner, demzufolge die Neugestaltung des Verfassungsrechts einen „starken Einfluß